Saša Stanišić: Herkunft, Rezension
Sonntag, 9. Februar 2020
Was bedeutet Herkunft oder Heimat?
Für dieses Buch gewann Saša Stanišić den deutschen Buchpreis. Ob gerechtfertigt oder nicht will ich gar nicht diskutieren. Es handelt sich bei Herkunft nicht um einen Roman, sondern eher um eine Art Biografie von Stanišić Familie. Wir erfahren viel von ich, seinen Eltern und vor allem von seiner Großmutter. Es geht um Herkunft, Heimat, Zuhause und Zugehörigkeit.
Dieses Buch wurde wegen des Preises sicher schon sehr oft besprochen, auch ich habe das Bedürfnis mich dazu mitzuteilen. Dazu hangele ich mich an einigen Zitaten aus dem Buch entlang.
Abschweifung
Dieses Buch ist eine einzige Abschweifung. Es fängt irgendwo an, geht irgendwo weiter, verknüpft sich in der Mitte wieder mit dem Anfang und bildet ein Sammelsurium kleiner Geschichten, die sich immer wieder verbinden. Stanišić macht das zu seinem Markenzeichen
Ohne Abschweifung wären meine Geschichten überhaupt nicht meine. Die Abschweifung ist Modus meines Schreibens.
S. 36
Heimat
Zu diesem Begriff gibt es einige Sätze im Buch. Ich habe mir während des Lesens viele Gedanken darüber gemacht, was das für mich bedeutet.
Stanišić schreibt dazu
Heimat, sag ich, ist das, worüber ich gerade schreibe.
S. 63
Vielleicht ist Heimat für mich auch das Buch, das ich gerade lese?
Herkunft
Was ist der Unterschied zwischen Heimat, Herkunft und Zuhause? Für mich nicht einfach zu definieren. Ich wohne schon immer hier in der Gegend. Über 20 Jahre im Haus meiner Eltern, jetzt seit über 20 Jahren in diesem Haus. Ich musste nie flüchten, alles hinter mir lassen. Doch meine Eltern schon. Vor allem mein Vater bezeichnet Schlesien, wo er seit der Vertreibung am Ende des zweiten Weltkriegs nicht mehr lebt, als Heimat. Und auf alle Fälle ist das auch seine Herkunft.
Stanišić schreibt zum Beispiel:
Herkunft ist Großmutter
S. 65-66
…
Herkunft ist Nana [seine Mutter]
…
Herkunft sind die süß-bitteren Zufälle, die uns hierhin, dorthin getragen haben. Sie ist die Zugehörigkeit, zu der man nichts beigesteuert hat.
…
Herkunft ist Krieg.
…
Herkunft ist Zufall.
Vor allem das letzte Zitat dazu „Herkunft ist Zufall“ empfinde ich als wahr. Wir kommen irgendwoher, wir gehen irgendwohin. Vieles davon ist Zufall, manches von uns selbst beeinflussbar.
Zuhause
Jedes Zuhause ist ein zufälliges. Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben…
S. 119
Sicher richtig. Durch Krieg, Vertreibung, Flucht kann das alles durcheinanderkommen. Und wird man dann noch dement, ist die Verwirrung komplett. Stanišićs Großmutter verliert ihre Erinnerungen und zum Teil auch das Bewusstsein wer, wo und wann sie ist. Sie sucht ständig ihr Zuhause.
Ich glaube, dass es wenig Schlimmeres gibt, als zu wissen, wo man hingehört, aber dort nicht sein zu können.
S. 170
So traurig. Das gilt für an Demenz erkrankte Menschen genauso wie für Flüchtlinge.
Das Ende
Ich werde einige Male ansetzen und einige Enden finden, ich kenne mich doch.
S. 36
Wie wahr dieses Zitat von Seite 36 doch ist, merke ich erst am Schluss. Die letzten 50 oder 60 Seiten des Buches sind mit „Der Drachenhort“ betitelt. Es ist ein interaktiver Buchteil, mit kurzen Abschnitten, nach denen es mehrere Möglichkeiten gibt weiterzulesen.
Du entscheidest, wie die Geschichte weitergehen soll, du erschaffst dein eigenes Abenteuer.
S. 291
Sehr spannend, witzig, abwechslungsreich und individuell. Wie das wohl im Hörbuch umgesetzt wurde?
Ich glaube, ich denke mir einen ganz eigenen Schluss aus. Der Abschnitt, den Stanišić der Großmutter auf Seite 327 in den Mund legt kommt aber auf jeden Fall darin vor. Er ist eine Art Zusammenfassung des Buches und der beiden Themen Heimat und Demenz:
Es zählt nicht wo was ist. Oder woher man ist. Es zählt, wohin du gehst. Und am Ende zählt nicht einmal das. Schau mich an: Ich weiß weder, woher ich komme, noch wohin ich gehe. Und ich kann dir sagen: Manchmal ist das gar nicht so schlecht.
S. 327