Stefanie de Velasco: Kein Teil der Welt
Mittwoch, 15. Januar 2020
2 Blogger, 1 Buch
Esther gehört mit ihrer Familie der Glaubengruppe der „Zeugen Jehovas“ an. Sie ist 16, geht auf ein Gymnasium. Ihr Alltag unterscheidet sich massiv von dem anderer 16jähriger. Sie feiert ihren Geburtstag nicht, Weihnachten nicht und an Veranstaltungen und Ausflügen der Schule darf sie nicht teilnehmen. Zu ihrem Alltag gehören Bibelstunden und Treffen im Königreichsaal. Bis Harmagedon! Der Tag, an dem die Welt untergeht und die Zeugen Jehovas im Paradies weiterleben. Bis dahin versuchen sie, noch möglichst viele Menschen von ihrem Glauben zu überzeugen. Mit Haustürbesuchen und Verteilen ihrer Zeitschrift.
Esther und ihre Freundin Sulamith lieben ihre Gemeinschaft und wissen ihre langjährige Freundschaft zu schätzen. Bis Sulamith sich verliebt und alles bisherige in Frage stellt.
Wir haben dieses Buch beide gelesen – es war eine Überraschung des Verlages.
Silvia: Das Buch spielt in zwei Zeitebenen, die sich langsam aufeinander zubewegen. Ich hatte manchmal ein Problem zu wissen, wann es gerade spielt. Ging es dir auch so?
Astrid: Ja, das war manchmal nicht so einfach. Zumal sich auch der Ort geändert hat. Eine Zeitebene spielt vor der Wende in einem Ort in Westdeutschland und eine kurz nach der Wende in Ostdeutschland. Das gefiel mir gut, da ich auch nicht wußte, wie die Zeugen Jehovas in der DDR existierten.
Silvia: Das war mir auch neu, ebenso wie die Verfolgung in der Nazizeit. Esther ist richtiggehend depressiv. Einige Sätze haben mich wirklich erschreckt.
Ich überlege, wann ich mich das letzte Mal über etwas gefreut habe. Ich weiß es nicht, es ist so lange her, dass ich Probleme habe, mich zu erinnern, wie Freude sich überhaupt anfühlt.
Silvia: Es gibt zwischendurch immer wieder kurze Textpassagen, in denen von einer Insel in einer Art Salzwelt die Rede ist. Konntest du dir darauf einen Reim machen?
Astrid: Nein! Ehrlicherweise habe ich mir nie die Mühe gemacht, diesen Glauben kennenzulernen und zu hinterfragen. Diese Haustürbesuche waren mir immer sehr suspekt. Und jede Woche in der Fußgängerzone zu stehen noch viel mehr. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie dadurch neue Mitglieder für ihre Gemeinde rekrutieren konnten. Aber das muss ja ein Trugschluss von mir sein, sonst hätten sie das ja nicht getan. Ich kenne niemanden, der sich den Zeugen Jehovas angeschlossen hat. Du?
Silvia: Nein, ich keinen auch niemanden. Allerdings gibt es in unserem Stadtteil einen Königreichsaal.
Im Buch stand, dass Michael Jackson mal Mitglied der Zeugen Jehovas war. Das wusste ich nicht. Im Internet habe ich noch gelesen, dass auch Oliver Pocher so aufgewachsen ist. Prince war aktives Mitglied und hat offen andere Menschen dafür angeworben.
Am Kölner Hauptbahnhof stehen auch immer einige Vertreter dieser Religion. Normalerweise mache ich immer einen Bogen um sie, damit ich nicht angequatscht werde. Doch nachdem ich mit diesem Buch begonnen habe, habe ich mal ein paar Blicke riskiert. Sie sahen ausgesprochen fröhlich aus. Doch es waren alles Erwachsene, keine Kinder oder Jugendliche.
Astrid: So ging es mir auch. Als ich letztens in der Stadt war, standen sie dort auch und ich habe mal sehr bewußt hingeschaut.
Silvia: Ich will diese Glaubensrichtung nicht verteidigen. Aber einige der Werte, die sie vertreten, sind gut. Wer würde schon ein verwahrlostes Kind aus der Nachbarschaft aufnehmen und ihm ein Heim bieten? Was mir aufstösst ist der Zwang, dieser psychologische Druck. Schließlich stehen Aussteiger plötzlich ganz einsam und allein in einer Welt, die sie so nicht kennen. Sicher nicht einfach, dem den Rücken zuzudrehen. Obwohl Esthers Vater behauptet:
„Sie durfte doch gehen“, sagte Vater, „keiner hat ihr das verboten. Jehova zwingt niemanden in die Wahrheit, das weißt du!“
Doch wohin soll ein Kind, eine Jugendliche gehen, wenn sie verstossen wird? Dazu braucht es Hilfe von Außen. Doch wie soll man in dem Alter Freundschaften schließen, wenn man so anders lebt als der Rest der Welt?
Nie hat mich jemand gefragt, ob ich Teil dieses Vereins sein wollte, niemand von uns war je gefragt worden … niemand von uns Kindern hatte sich aus freien Stücken entschieden, diesem eingetragenen Verein mit diesem eingetragenen Gott beizutreten
Das denkt Esther in diesem Buch. Hintergrund ist nicht nur der Zwang, sondern dass die Zeugen Jehovas in Deutschland als eingetragener Verein existieren.
Gerade habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich meine Kinder im Babyalter habe taufen lassen. Ich muss aber auch mal folgendes erzählen: als meine jüngere Tochter (freiwillig!!!) eine Zeitlang als Messdienerin tätig war, ging ich meist mit in den Gottesdienst, um ihr zu zeigen, dass ich sie unterstütze. Ich bin nicht gläubig, wurde aber mit offenen Armen von der Gemeinde aufgenommen. Menschen, die ich woanders her kannte begrüßten mich, freuten sich mich im Gottesdienst zu sehen. Das war ein schönes Gefühl. Ich denke die Zugehörigkeit in einer Religionsgemeinschaft kann auch etwas Positives sein. Allerdings muss das freiwillig sein.
Astrid: Dein Beispiel zeigt, wie sehr wir eine Gemeinschaft brauchen, die uns akzeptiert und annimmt. Dabei ist es ganz egal, ob die religiös ist oder nicht. Und dann mag man nicht immer darüber nachdenken, ob die Ausrichtung gut oder schlecht ist.
Zitat von Sulamith, Esthers Freundin
S. 279
Alle aus der Versammlung würden daraufkommen, wenn sie mal ein bisschen überlegen würden. Tun sie aber nicht. Weil das unbequem ist, weil sie dann einsam wären und bei null anfangen müssten.
Silvia: Das ist ein sehr passendes Zitat, das auch die jugendliche Sprache des Buches gut zeigt. Aus meiner Sicht ist dieser Roman für Jugendliche und junge Erwachsene sehr gut geeignet.
Ich kaufe Bücher gerne nach Cover. Dieses hier würde mich im Laden so gar nicht ansprechen. Aber ich muss sagen, es passt sehr gut zum Inhalt. Vor allem das Bild der Glasglocke. Ein eigener, vor Umwelteinflüssen schützender Kosmos. Aber auch ein Gefängnis, dem man nicht so einfach entrinnen kann.
Astrid: Mich hätte es angesprochen. Wegen seiner Einfachheit!
Bei diesem Buch ist mir zum ersten Mal richtig bewußt geworden, dass mir Bücher, in denen am Ende noch Fragen offenbleiben viel besser gefallen, als die, wo am Ende alles klar ist. Ich mag es, wenn ich noch über einige Fragen nachgrübeln kann. Und vor allem mag ich es in letzter Zeit immer weniger, wenn auf den letzten zwei Seiten alle offenen Fragen geklärt werden. Dann fühle ich mich immer um meine schöne Lesezeit betrogen, da ich das Gefühl habe, der Autor hat keine Lust mehr, alles ordentlich zu Ende zu bringen. Wie ist es dir denn lieber?
Silvia: Mir geht es ähnlich wie dir. Außer bei Krimis ;)). Ich möchte ja über das Buch, den Inhalt und die Protagonisten nachdenken. Das mache ich nur, wenn nicht alles klar ist. „Kein Teil der Welt“ hat ein offenes Ende. Das gefällt mir hier sehr gut. Ein prima Buch um darüber zu reden. Die gemeinsame Besprechung hat mir wieder viel Spaß gemacht.
Hallo,
das Buch ist hier auch vor geraumer Zeit überraschend eingetrudelt – und seitdem liegt es hier, ich habe aber vor, es in den nächsten Wochen zu lesen.
Mit dem Glauben der Zeugen Jehovas kenne ich mich auch überhaupt nicht aus, da habe ich gar keine Berührungspunkte mit – außer der Tatsache, dass sie manchmal zu zweit vor der Tür stehen und ich dann lächle, nicke, ihnen einen schönen Tag wünsche und sie möglichst freundlich abwimmle.
Ich hatte allerdings mal eine Freundin, da waren wir so etwa siebzehn, die einer evanglischen Freikirche beitrat, welche einen sehr sektenartigen Charakter hatte. Danach hat sie auch missionierend auf dem Marktplatz gestanden und war ganz traurig, weil mein Freund, den sie sehr sympathisch fand, in die Hölle kommen würde. Der war nämlich Moslem, und in ihren Augen kamen alle in die Hölle, die nicht christlichen Glaubens waren.
Bei ihr wusste ich, woran es lag: sie hatte ein sehr zerrüttetes Familienleben und suchte einfach nach einer Gemeinschaft, die sie auffing. Was aus ihr geworden ist, weiß ich nicht, sie brach irgendwann den Kontakt ab, und zu dem Zeitpunkt hatten wir uns schon stark entfremdet.
Ich finde das hier ein sehr schönes Format, wenn ihr beide das gleiche Buch lest und dann hier darüber redet!
LG,
Mikka
Hallo Mikka,
das Thema bietet viel Diskussonsbedarf.
Dieses Format macht uns sehr viel Spaß, weil wir dann auch mehr gemeinsam machen können. Gerade bei diesem Buch war mir der Austausch darüber sehr wichtig.
Viele liebe Grüße
Silvia
Pingback: [ Das Köfferchen ] Besuchte Buchblogs KW 03 2020