Streichquartett
Dienstag, 27. Oktober 2015
Anna Enquist
Streichquartett
Vier Menschen musizieren miteinander und interagieren auch in der „realen“ Welt. Alle haben ihre eigenen Probleme, bis hin zur schwerwiegenden Depression. Doch die Musik kann sie von ihren Alltagsproblemen lösen.
Da sind Carolien (Cello) und Jochem (Bratsche), sie haben ihre Kinder verloren und versuchen irgendwie damit weiterzuleben. Das schaffen sie kaum, sie sind in ihrer Sprachlosigkeit gefangen.
Heleen (zweite Geige) ist sehr harmoniebedürftig. Eine richtige Glucke. Nicht nur für ihre drei Jungs, auch für Freunde und Kollegen. Damit nicht genug, engagiert sie sich auch karitativ.
Die erste Geige spielt Hugo. Aber nur im Streichquartett. Ansonsten scheint sein Leben zu zerbersten, was er aber eher heiter annimmt und überall neue Möglichkeiten für sich sieht.
Etwas außerhalb steht da Reinier. Ehemaliger Profimusiker und auch Musikprofessor. Jetzt alt und müde, leicht klapperig. Er fühlt sich wertlos. Reinier spielt nicht im Quartett mit, trotzdem bildet seine Geschichte eine Art Klammer um die anderen herum. So beginnt und endet das Buch mit ihm. Das Alter und seine Folgen sind auch ein zentrales Thema in diesem Roman. Allerdings erläuterte die Autorin in einem Interview während der Frankfurter Buchmesse 2015, dass die von ihr beschriebenen Zustände in der Altenpflege (noch) nicht der Realität entsprechen.
Enquist ist selbst Psychotherapeutin und Musikerin. Sie kann sich also in andere Menschen einfühlen und Musik in Sprache umsetzen. Eigentlich ist sie Pianistin, spielt aber in der Freizeit auch mit Freunden in einem Streichquartett. Die 70jährige war in den letzten beiden Jahren Stadtdichterin von Amsterdam und hat so auch Ausflüge in die Lyrik unternommen.
Das Dissonanzen-Quartett ist ein Streichquartett in C-Dur von Wolfgang Amadeus Mozart (KV 465) und eines der drei Stücke, an denen die vier Freunde während der Handlung des Buches arbeiten.
Den Aufbau dieses Buches kann man durchaus mit diesem Musikstück vergleichen: langsame, düstere Teile, Dissonanzen zwischen den Beteiligten die sich auflösen und in neuen Konstellationen wieder aufbauen, es gibt heitere Abschnitte und einen temperamentvollen Schluss. Allerdings geht Enquist in diesem Buch nicht so weit wie in ihrem Buch „Kontrapunkt“ (mein absolutes Lieblingsbuch!!!), welches als eine Abbildung der Goldbergvariationen verstanden werden kann.
Ich war wie eingesogen von der Sprache und den empathischen Schilderungen der Gedankenwelten der Protagonisten. Umso krasser waren für mich die letzten 50 Seiten, in denen der Roman plötzlich in eine Art Kriminalhandlung abdriftet. Ich erkläre mir diesen Umschwung mit dem Umsetzen des furiosen Finales eines klassischen Musikstückes, bin mir aber nicht sicher, ob das Buch dadurch wirklich gewinnt. Wobei der Schlussakkord mir wieder sehr gut gefällt.
Ich kann nur empfehlen während der Lektüre des Buches auch die beschriebenen Musikstücke zu hören. Bei Youtube wird man da schnell fündig.
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Anna Enquist: Streichquartett, in einer Übersetzung aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers
Luchterhand Literaturverlag, ISBN: 978-3-630-87467-8, 288 Seiten, gebundene Ausgabe € 19,99 [D]