Thomas Hettche: Pfaueninsel
Mittwoch, 22. Oktober 2014
Die Pfaueninsel liegt in der Havel, zwischen Berlin und Potsdam. Sie war im 19. Jahrhundert ein beliebtes Ausflugsziel für alle Welt. So war dort eine Zeitlang eine Menagerie mit vielen Tieren aus verschiedenen Kontinenten untergebracht und wurde dort bestaunt.
Diese Insel, die einem Fisch gleicht, einem flossenschlagenden, sich wild aufbäumenden Wal, aus welchen Gründen auch immer an gerade dieser Stelle der hier besonders träge mäandernden, sich weitenden und wieder verengenden Havel gestandet…
Außer fremdartigen Tieren gab es auch ganz besondere Menschen, die vom König auf die Insel verpflanzt wurden und gleichermaßen von den Besuchern begafft wurden. So gab es einen „Insulaner“ einen „Mohren“, einen „Riesen“ und zwei „Zwerge“. So glich die Insel einer Art Phantasialand, in das sich die jeweiligen Regenten zur Entspannung zurückzogen.
Doch das Buch handelt nicht nur von der Insel, sondern vor allem von einer ihrer Bewohnerinnen, die dort einen großen Teil des Jahrhunderts verbracht hat: das Schloßfräulein Maria Dorothea Strakon. Mit ihrem Bruder Christian wurden sie als Waisen vom König 1806 auf die Insel gebracht. Sie waren beide kleinwüchsig. So nennt man es heute. Damals wurden sie bestenfalls Zwerge, im schlechten Fall Monster, Missgeburt oder ähnliches genannt. Immerhin war ihr durch das Bleiberecht auf der Insel ein Schicksal als Berühmtheit in einem fahrenden Kuriositätenkabinett erspart geblieben.
Marie, wie sie im Buch von allen genannt wird, ist sich ihrer Andersartigkeit fast immer bewusst. Sie führt trotzdem ein existenziell sorgenfreies Leben. Wie ein Tier im Zoo. Diese Vergleiche kommen immer wieder auf. Sie ist aber innerlich ein ganz normales Mädchen und wächst zu einer intelligenten Frau heran, die sich vor allem für Literatur interessiert.
Sie bleibt, bis auf einen kleinen Ausflug, immer auf der Insel. Erst zu spät wird ihr bewusst, dass ein Leben außerhalb der Insel auch möglich gewesen wäre.
Sie liebt, wird geliebt, bleibt letztendlich aber allein. So wie die Insel nach ihrer Prunkzeit immer mehr verfällt, wird sie immer älter, gebrechlicher und einsamer.
Das Buch kreist immer wieder um zentrale Fragen wie: Was ist Schönheit? Was ist Normalität?
Der Erzähler philosophiert auch gerne über Zeit, Veränderung und Märchen. So kommen auch Gestalten aus anderen Geschichten vor, wie z.B. Schlehmil, ursprünglich von Chamisso erdacht.
Viele Personen haben einen historischen Hintergrund (Könige, Königinnen, Lenné), auch die Existenz von Marie ist verbürgt, über ihr Leben auf der Insel ist aber so gut wie nichts bekannt und entspringt der einfühlsamen Phantasie des Autors.
Für mich ein Lesehighlight dieses Jahr, ich freue mich, dass es dieses Buch auf die Shortlist des deutschen Buchpreises schaffte und dem Autor dieses Jahr der „Wilhelm Raabe-Literaturpreis“ verliehen wurde.
Abgerundet wurde das Leseerlebnis für mich mit dem Besuch einer Lesung des Autors.
Wer sich ein tiefergehendes Bild von Buch und Insel machen möchte, sollte sich die wunderschöne Website dazu ansehen. Sie enthält Hörproben aus dem Buch, verknüpft mit wichtigen Orten auf einer historischen Karte der Pfaueninsel.
Thomas Hettche: Pfaueninsel,Verlag: Kiepenheuer und Witsch, ISBN: 978-3-462-04599-4, 352 Seiten
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