Traumschiff
Sonntag, 16. August 2015
Traumschiff
Ein Roman von
Alban Nikolai Herbst
Das Traumschiff ist manchmal ein Albtraum.
Stellt Euch vor ihr habt einen Verwandten, schon alt, der unter Demenz leidet. Zum Beispiel euren Vater. Stellt euch vor, er ist in einem erstklassigen Pflegeheim untergebracht. Stellt euch vor, er sitzt nach zwei Schlaganfällen im Rollstuhl. Er ißt kaum noch was, spricht seit langer Zeit kein Wort. Er erkennt euch nicht, obwohl ihr ihn sehr häufig besucht.
Schrecklich, nicht wahr? Ein Zustand, den man weder dem Kranken, noch den Angehörigen wünscht. Ist das Leben in diesem Zustand noch lebenswert? Was geht in diesem Menschen vor? Geht da überhaupt noch etwas vor? Oder ist es nur noch eine Hülle? Wo ist der Mensch, den man viele Jahre kannte und liebte?
Diesen Fragen geht dieses Buch nach. Es beschreibt diese Krankheit aus Sicht des Betroffenen. Natürlich sind das nur Mutmaßungen, da wir nicht wissen können, wie es in diesem Menschen aussieht.
Dieses Buch ist nicht einfach zu lesen. Ich wusste nicht worum es geht. Klappentext und Pressmitteilung geben nichts Konkretes her. Hier habe ich dieses Buch als kommende Neuerscheinung vorgestellt, dort findet ihr auch eine Leseprobe.
Beschrieben wird das Leben auf einem Kreuzfahrtschiff. Es gibt viele Passagiere, aber 144 besondere Menschen; sie haben „das Bewusstsein“. Was ist ihnen bewusst? Der nahende Tod? Denn das wird schnell deutlich gemacht: diese 144 werden das Schiff nur noch im Sarg verlassen.
144 wie die Steine in dem Spatzenspiel, dem Mah-Jongg-Spiel das immer wieder auftaucht.
Zu dem Bewusstsein gehört, keine Angst mehr zu haben. Auch nicht vor der Sinnlosigkeit. Doch wenn das Bewusstsein zum ersten Mal einsetzt, spürt man die Angst besonders. Dann darf man nicht fliehen, sondern muss sich ihr stellen.
Der Kranke, der seine Geschichte in Kladden schreibt, in denen später aber nur seitenweise Koordinaten gefunden werden, ist verwirrt. Das wird schnell klar. Manche Sätze sind seltsam unvollständig, grammatikalisch unkorrekt. Doch diese fehlerhaften Sätze und Gedanken bergen oft eine wundervolle Poesie.
Er gibt oft zu, sich an etwas nicht erinnern zu können. Er verwechselt Namen und Menschen. Er wundert sich über den Besuch, der plötzlich neben ihm sitzt, völlig unbekannt, aber nach seiner Hand greift und beim Abschied weint. Doch das nimmt er alles stoisch hin. Er hat nämlich beschlossen nicht mehr zu sprechen. Er kommuniziert gar nicht mehr. Das wird später deutlich, als er in einer Szene plötzlich die Initiative ergreift (wie, will ich hier aber nicht vorwegnehmen).
Schon die ganze Zeit über hält er meine rechte Hand. Offenbar versteht er nicht, dass von mir in ihr gar nichts drin ist.
Doch das Buch ist nicht frustrierend, weil es ja davon ausgeht, dass hinter der starren Fassade etwas ist. Das der Mensch, den man kannte, sich nur irgendwie versteckt.
Dieser Kranke, später kommt heraus, dass es sich um Herrn Lanmeister handelt, ist manchmal traurig, gedemütigt, verzweifelt. Aber er hat auch viele sehr zufriedene Momente. Wenn er draußen auf dem Deck sitzen darf, ein Freund neben ihm und er auf die vorbeifliegenden Manta-Rochen schauen kann (was er da wirklich sah, ist mir nicht klar geworden). Wenn er noch einmal Kinder sieht (bei diesem Abschnitt war ich echt froh, bei den Besuchen bei meinem Opa die kleinen Kinder mitgenommen zu haben). Außerdem ist er verliebt. In die junge, hübsche Pianistin Lastotschka. Sie gibt regelmäßig kleine Konzerte. Er verliebt sich in die Frau, ist sich bewusst, dass dies hoffnungslos ist, erfreut sich aber trotzdem an diesen Gefühlen.
Georg Lanmeister erinnert sich an viel. An seinen Sohn Sven, der ihn nie besucht (so glaubt Georg). An seine Kindheit, die sicher nicht einfach war. An sein Arbeitsleben. An seine Beziehungen zu Frauen. Er geht dabei durchaus kritisch mit sich selbst um. So konnte ich mir mit der Zeit auch ein gutes Bild von dem Mann, von seinem bisherigen Leben machen.
Er versöhnt sich mit seinem jetzigen Leben, indem er sich auf ein luxuriöses Traumschiff wünscht, das die ganze Welt bereist.
Er ist sich darüber im Klaren, dass er bald sterben wird. Von Kapitel zu Kapitel wird es ihm klarer. Anfangs noch nicht bereit dazu, nimmt er im Laufe des Buches, dieser Reise durch das Meer „Zeit“, sein Ende immer mehr an.
Dieses Buch musste ich mir regelrecht erarbeiten. Aber diese Arbeit hat sich für mich gelohnt. Natürlich habe ich keine Ahnung, wie es in einem Kranken, der nicht mit der Außenwelt kommuniziert, wirklich aussieht, aber es gibt mir Hoffnung. Und es erinnert mich mit jeder Seite daran, allen Menschen mit Respekt zu begegnen, auch wenn ich kein Echo erhalte.
Alban Nikolai Herbst: Traumschiff, mare Verlag
ISBN 978-3-86648-215-9, 22,00€ [D]
Zitate
Da ich die Sprache so wunderbar finde, stelle ich einige Zitate ans Ende dieser Rezension:
„Ich würde sogar sagen, dass sein Sprechen das Futter ist, das seine innere ozeanische Stille genau so einhüllt wie der nachtblaue Samt die Spatzen in dem feenseeschwalbenfedernen Holz ihrer Kiste.“
„Er muss, dachte ich, nur noch aufgeben. Einfach das ganze Vorhaben aufgeben. Keiner von uns kann zurück. Solange wir es noch immer versuchen, bleiben wir auf dem Traumschiff, ja, gefangen, dachte ich plötzlich. Wir sind auf dem Traumschiff gefangen.“
„Da spürte ich das warme flüssige Leben von den Händen bis in meine Achselhöhlen laufen.“
Ein paar Worte über „Erinnerung“:
„Alles das ist niemals geschehen. Es waren nur Steinchen, die du ins Meer wirfst. Man kann ihnen nicht länger nachsehen, so schnell gehen sie unter.“
„Das bisschen Schmerz war egal. Er war sogar wichtig. – So spürte ich mich.“
„Wir sind sowieso längst dreiviertel drüben. Nur ist dieses Drüben ein Teil dieser Welt. Jede ihrer Fasern wurzelt im Drüben. Aus dem saugt sie ihre Nahrung auf.“
„Welche ein gutes Gefühl, Erschöpfung. Erschöpftsein. Ausgeschöpft sein. Haben, ausgeschöpft haben.
Das zu wissen.“
„Er lebt in einer Welt, die uns verschlossen ist oder in die uns nur manchmal unsere Liebe ein bisschen hineinsehen lässt. Dann bekommen wir eine Ahnung davon, weshalb er manchmal Sachen macht, die wir nicht verstehen.“
„Dabei stört es auch nicht, dass der Besuch die meine Hand hält. Es ist sogar sehr angenehm. Man ist locker daran fest gemacht wie ein Boot auf einem so stillen See, dass man ihn für verwunschen hält. Am Ufer, mit einer Schnur. Da muss keiner fürchten davonzutreiben, oder nur kaum.“
„Patrick ist vor Glück gestorben, dachte ich, und es war so groß, dass sein Herz, weil es doch krank war, es nicht aushalten konnte. Denn wer eine Stadt seiner Sehnsucht erreicht, dem ist sie erlaubt.“
„Das Leben geht ohne mich weiter. Doch ohne, dass ich weg bin. Ich bin nur aus der Welt. Versiegelt im Kabinengrab.“
♌
Hinter diesem Titel hätte ich wirklich nicht so eine Geschichte vermutet. Nach dem Lesen habe ich lange das Cover angestarrt. Durch den Titel hatte ich auch ein Schiff auf dem Cover vermutet, aber dem ist ja gar nicht so. Eigentlich ist es ein ziemlich trauriges Cover, dass wirklich gut zu dem Buch passt. Die Mare-Grafiker haben schon ein gutes Gespür für die Umschlaggestaltung. Ob die vorher jedes Buch lesen?
Das Buch muss ich natürlich unbedingt lesen, ist Demenz doch eigentlich mein Thema!