Widerrechtliche Inbesitznahme
Dienstag, 9. Juni 2015
Widerrechtliche Inbesitznahme
Ein Roman über die Liebe.
von Lena Andersson
in einer Übersetzung von Gabriele Haefs
Liebesromane sind nicht so mein Ding. Zu seicht, zu schnulzig, zu unrealistisch. Wer glaubt schon an die wahre Liebe?
Dieses Buch beschreibt die Liebe einer intellektuellen Frau. Dies Buch ist nie kitschig, sondern immer anspruchsvoll. Wenn auch die beschriebenen Gefühle ebenfalls zu einem Teenager passen würden.
Ester Nilsson ist einunddreißig Jahre alt, lebt in einer festen, guten Beziehung und lebt von „inhaltsschweren“ Veröffentlichungen von Artikeln, Essays und Gedichten. So wird sie beschrieben:
Seit dem Tag, an dem sie Sprache und Ideen gefunden und ihre Aufgabe erkannt hatte, verzichtete sie auf ein Leben in Luxus, aß billig, nahm es mit der Verhütung genau, reiste ohne hohe Kosten, hatte niemals einer Bank oder einer Privatperson etwas geschuldet und vermied Situationen, die sie an dem hindern könnten, dem sie ihre Zeit widmen wollte, nämlich lesen, denken, schreiben und Gespräche führen.
Als sie den Auftrag erhält auf einer Veranstaltung einen Vortrag über den Künstler Hugo Rask zu halten sagt sie sofort zu, denn sie schätzt seine Werke ungemein.
Nach einer Woche intensiver Vorbereitung meint sie Hugo schon sehr gut zu kennen, ohne ihn je getroffen zu haben und ist eigentlich schon verliebt, bevor sie den Mann überhaupt kennenlernt:
Das Gefühl wandelte sich von Respekt am Sonntag zu Wertschätzung am Dienstag, zum Donnerstag hin wurde es zu einer bohrenden Sehnsucht und am Freitag zu schwerem Begehren.
Dabei spricht er vor allem ihren Intellekt an, zum Beispiel mit solchen Äußerungen:
Der Künstler, der sich nicht in der Gesellschaft und der Ohnmacht des Menschen in seiner grausamen Existenz beschäftigt, sollte sich nicht Künstler nennen.
Sie bewegt sich in einem Kreis von Intellektuellen, Künstlern, Autoren, Journalisten; das Buch spiegelt das Milieu, in dem es spielt, mit jedem Satz wieder. Aber Hugo Rask gegenüber benimmt sie sich wie ein (gesitteter) Groupie.
Sie kommt mit ihm ins Gespräch, sie treffen sich ein paarmal in seinem Atelier, gehen zusammen essen. Sie führen viele intensive Gespräche. Vor allem über Kunst, Literatur, Politik, Ethik, die Gesellschaft.
Und diese selbstbewusste Frau, die bisher immer stringent ihren Weg gegangen ist, verwandelt sich in ein hilfloses Anhängsel und stört sich nicht mal daran.
Hugo wird von ihr grenzenlos angehimmelt:
Sie interessierten sich beide nicht sonderlich für Ester, aber sie interessierten sich beide sehr für Hugo.
Ester ist sich der Ungleichheit in dieser „Beziehung“ bewusst, „ließ ihre Hingabe davon aber nicht beeinflussen.“
Spätestens an dieser Stelle (erst Seite 43) möchte ich Ester gerne packen und schütteln. Was „der Freundinnenchor“ (herrliches Wort!) auch versucht, aber nicht durchkommt. Von den gut gemeinten Ratschlägen hört sie nur das, was ihr gerade passt und Hoffnung auf ein schönes Leben gemeinsam mit ihrer großen Liebe Hugo macht.
Wie eine Süchtige wartet Ester ununterbrochen, immer und überall auf Zeichen, Anrufe, eMails, SMS von Hugo. Und immer wieder wird sie enttäuscht und leidet. „Wenn das Leiden nicht akut werden soll, müssen die Liebesflüssigkeiten die ganze Zeit aufgefüllt werden.“.
Sie kommt zum Ziel: sie schlafen miteinander. Ester ist endgültig im siebten Himmel. Aber leider allein. Und nicht nur das:
Sie hatten in dem Moment, in dem ihre Körper einander berührten, aufgehört zu sprechen.
Es herrscht Funkstille. Hugo hat wohl gemerkt wie ernst es Ester ist und kontaktiert sie nicht mehr. Er flüchtet. Da beginnt Ester jedes Zeichen, jede Geste, jedes Wort, jedes Fehlen derselben zu interpretieren und zu analysieren.
Die üblichste Frage seit der Erfindung des Telefons könnte sein: Warum ruft er nicht an?
Sie läuft ihm hinterher wie eine läufige Hündin. Aus der stolzen Frau wird eine Bettlerin. Sie bettelt um Aufmerksamkeit.
Sie würde ihn an diesem Tag keinesfalls anrufen. Sie rief ihn an.
Immer wenn sie es schafft, sich wieder ein wenig auf sich selbst zu besinnen, passiert etwas und sie ist ihm wieder total verfallen.
Die Angst über ausgebliebene Antworten war etwas, das die Erfinder von SMS und Mail-Nachrichten sich nicht hatten vorstellen können.
Ester vernachlässigt sich und ihre Arbeit, trennt sich von ihrem langjährigen Partner lebt nur für ihn, während er sie ignoriert und vor ihr flüchtet.
Geschenke, um die man nicht gebeten hat, können entsetzlich sein in ihren Forderungen, ihren Wünschen, ihren aufdringlichen Demonstrationen der Fürsorge der schenkenden Person.
Sie unternimmt eine Reise, aber:
Nichts half, wenn man sich selbst mitnahm.
Ester bekommt etwas Abstand. Sie telefonieren wieder:
In ihrem erhitzten Zustand konnte Esther nicht erfassen, dass diese Bemerkung leicht wie Asche und ebenso verkohlt sein konnte.
Ester ist ihm wieder total verfallen.
Sie dachte über die seltsame Tatsache nach, dass sieben Milliarden Menschen auf der Erde nicht von einem Lebenszeichen von ihm abhängig waren.
Jetzt noch zwei Sätze aus dem Buch.
Der erste:
„Ester Nielsson hieß ein Mensch“
und der letzte:
„Nichts mehr zu verstehen.“
Esters „Liebesblindheit“ sorgt auch für feinen Humor, der sich für den unbeteiligten Betrachter quer durch das Buch zieht.
Mir selbst ist auch nach dem Buch noch nicht ganz klar ob sie versucht ihn widerrechtlich in Besitz zu nehmen, oder ob sie meint, er hätte an ihr eine widerrechtliche Inbesitznahme vorgenommen.
Was mir aber klar ist: die Menschen sind im Liebeskummer alle gleich. Egal wie gebildet oder ungebildet sie sind. Dieser Kummer kann krank machen. Jede Geste scheint ein Zeichen der Genesung. Eine Gesundung, die aber nicht den Virus vernichtet, sondern den Wirt.
Die Autorin, Lena Andersson, erhielt für dieses Buch den Augustpreis, renommiertester Literaturpreis Schwedens (außer dem Nobelpreis…). Dort stand dieses Buch lange auf der Bestsellerliste. Für den deutschen Markt wurde es von Gabriele Haefs übersetzt.
Lena Andresson: Widerrechtliche Inbesitznahme, aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs, Verlag: Luchterhand, ISBN: 978-3-630-87469-2Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 224 Seiten, € 18,99 [D]
♌
Klingt gut.
Vor allem das Zitierte „Nichts half, wenn man sich selbst mitnahm,“ wie wahr, wie wahr.
Vielleicht ja tatsächlich auch ohne Kitsch ein lesenswerter Roman über das Leid mit der Liebe.
Kommt jedenfalls mal auf meine Merkliste.
So wie es scheint ist allerdings die Englische Titelübersetzung mit „Wilful disregard“ näher am Originaltitel „Egenmäktigt förfarande“ (das Übersetzt google mit: Willkürliche Entscheidung).
Ja, Du hast recht. Der britische Titel passt viel besser.
Ich empfinde dieses Buch als sehr lesenswert. Ich hoffe er gefällt Dir!