Anke Stelling: Bodentiefe Fenster
Sonntag, 22. November 2015
Balanceakt zwischen Job, Familie und Alltag
Dies ist das einzige Buch von der diesjährigen Longlist für den Deutschen Buchpreis, das ich gelesen habe. Ja, ich gebe zu, ich bin überhaupt kein Longlist- oder auch Shortlist-Leser. Aber irgendwie hat es dieses Buch trotzdem geschafft, von mir gelesen zu werden.
Sandra, Anfang der 70er Jahre geboren, hatte eine Mutter, die der 68er Generation angehörte. Sandra wächst in Berlin in den legendären Kinderläden auf, die die Eltern selbst organisiert haben. Jedes Kind sollte frei aufwachsen, ohne Zwänge und Autorität.
Wir sind auf den Begriff „generationenübergreifend“ reingefallen und werden sie also niemals loswerden die Lebenslügen unserer Mütter, ihre unheilvollen Strategien, sich Selbstverwirklichung einzureden.
Sandra, selbst Mutter von zwei Kindern, wohnt mit Mann und den Kindern in einem generationsübergreifenden Hausprojekt in Berlin. Prenzlauer Berg. Eine gute Gegend, die sie sich sonst nicht hätten leisten können. Und eigentlich ist sie auch überzeugt von diesem Projekt. Die Realität überfordert sie allerdings und so lässt sie sich in diesem Buch über ihr Leben aus. Sie erzählt von abstrusen Erlebnissen: Von dem Vater der Kinder ihrer Freundin, der keine Lust hat, den Weihnachtsabend mit seiner Familie zu verbringen, also schickt er aus dem Nebenzimmer eine SMS. Von den Kindern ihrer Schwester, die sich selbst erziehen müssen, was für Aussenstehende schwer mit anzusehen ist, von dem täglichen Miteinander in der Hausgemeinschaft und von diversen Freunden, die völlig überfordert sind mit Job und Kindererziehung und entweder schon einen Burn-Out hatten oder darauf zusteuern.
Die Protagonistin möchte wie ihre Mutter die Welt verbessern. Vieles in ihrem Umfeld ist für sie nicht tragbar, aber sie merkt auch, dass sie nicht der Lage ist, die Situation zu verändern. Als Kind hat man ihr beigebracht, dass mit Reden und Ausdiskutieren jedes Problem gelöst werden kann. Der Alltag zeigt leider, dass das nicht stimmt.
Dieser Roman ist eine Aneinanderreihung von tragischen und komischen Geschichten. Es hat mich nicht von Anfang an gefesselt, es bestand sogar die Gefahr, dass ich abbreche. Ich hatte diese Stimme der Protagonistin im Kopf, viel zu laut und provozierend. Irgendwie konnte ich das kaum aushalten. Aber dann, von einem Moment auf den nächsten hat diese Stimme Besitz von mir genommen und plötzlich war ich voll auf ihrer Seite. Ich habe ihr in so vielem zugestimmt und so ließ mich dieses Buch gar nicht mehr los. Auch wenn mein verständnisvolles Kopfnicken am Schluss sehr abnahm und ich das Bedürfnis hatte, die Protagonistin zu beruhigen. Meine Hochachtung gilt der Autorin, die ein unheimliches Tempo vorlegt.
Sprachlich sehr analytisch, zynisch, ironisch und selbstkritisch. Ein absolutes Lesevergnügen.
Ich kann niemanden brauchen, dessen Energieniveau meines um mindestens hundert Prozent übersteigt“ Sandra über ihre Kinder!
Es erinnert sehr stark an Dörte Hansens „Altes Land“. Auch Anke Stelling schreibt aus ihrem persönlichen Umfeld. Wie die Protagonistin wohnt sie in einem Mehrgenerationenhaus und so darf man wohl alles glauben, was sie über das Zusammenwohnen erzählt.
Empfehlen möchte ich dieses Buch vor allem Müttern, die sich mit dem Balanceakt zwischen Kindern und Job auskennen.
Anke Stelling: Bodentiefe Fenster, Verbrecher Verlag, Berlin 2015, ISBN 9783957320810, Gebunden, 248 Seiten, 19,00 EUR
Die Kekse auf den Fotos sind meine ersten Weihnachtsplätzchen, das Rezept verrate ich Euch im Dezember.
Jetzt hast du mich neugierig gemacht.
Immer wieder frage ich mich, was in den Köpfen dieser völlig überforderten Mütter und Väter aus Prenzelberg so vor sich geht, vielleicht würde mir dieses Buch einen Einblick gestatten, verstehen lehren,…
Ich mag diese Listen übrigens auch nicht. Ich suche mir meine Bücher wie ich möchte,
Grüße aus Berlin
Andrea
Liebe Andrea,
finde ich interessant, dass Du als Berlinerin das Buch noch nicht kennst. Meist sind doch solche Bücher in der Regionalpresse häufig vertreten. Bei „Altes Land“ lese ich ständig etwas über die Autorin und ihr Buch. Aber vielleicht auch nur, weil es populärer ist. VG Astrid