Arno Geiger: Unter der Drachenwand
Mittwoch, 7. Februar 2018
Europa, 1944
Unter der Drachenwand von Arno Geiger ist ein Buch, dass ich nur mit Unterbrechungen lesen konnte. Nicht, dass es mir nicht gefiel, oder mich gar langweilte. Nein, es nahm mich zu sehr mit. Obwohl es Geschichten erzählte, wie ich sie schon oft gelesen habe. Geschichten, die im zweiten Weltkrieg spielen.
Nichts Neues?
So bietet das Buch inhaltlich nicht viel Neues. Hauptfigur ist Veit Kolbe. Nach Jahren an der Front kommt er wegen einer Verletzung zur Genesung an den Mondsee. Weitere Hauptfiguren sind Oskar Meyer, ein Wiener Jude, Margot, eine junge Frau mit Baby aus Darmstadt und ein junges Pärchen, die wie die Königskinder nicht zusammenkommen dürfen. Also nichts Neues. Warum gingen mir ihre Geschichten so nahe? Warum brauchte ich Lesepausen, weil ich das Gefühl habe, dass ich es sonst nicht aushalte?
Ganz erklären kann ich es mir immer noch nicht, doch ich denke, es liegt am gewählten Stil. Es handelt sich um Briefe und Tagebucheinträge. So kommen mir alle im Buch sehr nahe.
Tagebuch
Alles ist in der Ich-Form geschrieben. Aber aus verschiedenen Sichten. So schreibt Veit Kolbe ein Tagebuch und Geiger lässt uns im Buch daran teilhaben. Ohne Datum und „Liebes Tagebuch“- Anrede. Einfach nur so runtergeschriebene Sätze, Erlebtes, Gefühle. Dieser Junge Mann, der in den Kriegserlebnissen an der Ostfront frühzeitig gealtert ist, den Krieg für verloren hält und keine Lust mehr hat als Opfer erneut an die Schlachtbank geführt zu werden. Er hat Panikattacken, schlechte Erinnerungen und keine Perspektive. Denn selbst wenn er den Krieg und einen weiteren Einsatz an der Front überlebt, hat er keine Ausbildung. Abitur konnte er noch machen, doch das geplante Studium wurde durch das Soldatenleben ersetzt.
Ich habe so viel Zeit verloren, dass ich sie nicht aufholen kann.
Auch Oskar Meyer, ein Jude, der mit seiner Familie in Wien lebte lernen wir durch Tagebucheinträge kennen. Es nahm mich sehr mit, wie seine Einträge immer hoffnungsloser wurden. Ein Sohn konnte nach England gehen. Er, seine Frau und der zweite Sohn haben eine Gelegenheit zum Auswandern verpasst. Eine zweite Chance gab es nicht. Nur noch die Flucht. Und auch die bot in Europa kein sicheres Ziel. Die Entbehrungen, der Hunger, die Not, die Demütigungen. Diese Passagen sind recht kurz, aber wirksam. Auch die St. Louis, das Schiff, das in Kuba abgewiesen wurde und das viele Bücher zum Inhalt haben (z.B. Alma, Das Erbe der Rosenthals) wird erwähnt. Immer faszinierend wie verschiedene Bücher ineinandergreifen.
Oskars Geschichte ist auch die einzige, die über einen längeren Zeitraum als dieses eine Jahr erzählt wird. Sie beginnt mit der Kristallnacht. Oskar verliert nicht nur seine Familie, Heimat, Würde sondern auch seine Identität. Im folgenden Satz wird seine ganze Verzweiflung klar:
Ein heimatloser Flüchtling, ein heimat- und staatenloser Mensch, unter falschem Namen, mit falschen Papieren, mit falschem Blut, in der falschen Zeit, im falschen Leben, in der falschen Welt.
Briefe
Andere Menschen lernen wir durch Briefe kennen. So lebt im gleichen Haus wie Veit die junge Kriegsbraut Margot am Mondsee. Gemeinsam bieten sie der leicht irren Vermieterin und den widrigen Umständen die Stirn. Margot hat keine eigene Stimme. Wir lernen sie durch Veit und durch die Briefe ihrer Mutter aus Darmstadt kennen. Auch dort verändert sich der Ton in diesem im Buch beschriebenen Jahr sehr. Denn Darmstadt wird immer wieder bombardiert. Todesangst, Beerdigungen, Mangel, Angst um die Soldaten aus der Familie und Sehnsucht nach den Töchtern, die eine am Mondsee, die andere als Strassbahnschaffnerin in Berlin. Hier kommt sehr viel vom schwierigen Alltagsleben zutage.
Alltag
Der Alltag und seine, zum Teil schon skurrilen Restriktionen, werden recht detailliert beschrieben.
Weißt du, dass auch Frauen zwischen vierzehn und zwanzig eine einheitliche Haarlänge vorgeschrieben ist? Erlass der Reichsjugendführung an alle Innungen der Friseure. Solange die geniale Deutsche Reichsregierung solche Ideen hat, ist Deutschland nicht verloren.
Drachenwand
Die Drachenwand zeichnete sich deutlich ab, ein über die klirrenden Wälder gereckter Schädel, der mit leeren Augen auf die Landschaft herabstierte.
Und über allem die drohende Drachenwand. Ein steiler Fels, der über dem kleinen Ort mit dem idyllischen Namen herrscht und einer Protagonistin auch zum Verhängnis wird. Sinnbild für das noch kommende Unheil, denn Europa muss bis zum Ende des Krieges noch einige Tote ertragen.
Jeder halbwegs nüchterne Mensch muss ein politisches System mit den Augen der Toten betrachten.
Mondsee
Doch trotzdem habe ich das Gefühl, der Mondsee liege in einer idyllischen Landschaft, ein Ort, in dem man gerne Urlaub macht. Wandern, baden, österreichische Gastfreundschaft genießen. Doch alle, die hier zu Besuch sind, wurden durch den Krieg dorthin gezwungen und dadurch verbunden. Alle Personen im Buch werden miteinander verknüpft. Zum Teil etwas bemüht und in einem Fall sehr, sehr lose. Doch trotzdem sind sie in der dunklen Zeit des Jahrs 1944 verbunden. Verschiedene Schicksale in verschiedenen Härtegraden. Doch kann man Verzweiflung objektiv vergleichen? Eher nicht.
Aus den Nachbemerkungen des Buches entnehme ich, dass Geiger sich an tatsächlichen Lebensläufen angelehnt hat. Ich wüsste gerne, ob er Briefe oder Tagebücher von Ihnen gefunden hat und so zum Buch getrieben wurde.
Fazit
Immer wieder lese ich Bücher über diese Zeit. Unter der Drachenwand ist eines, das mich in die Schicksale der Protagonisten direkt hineinzog. Es ist lange her, wir haben nur noch wenige Zeitzeugen unter uns. Lasst uns ihre Erinnerungen nutzen um nicht die gleichen Fehler erneut zu machen.
Wir können nur daraus lernen. Kurt Ritler, ein Junge, der noch als halbes Kind als Panzergrenadier verpflichtet wird und auch mit Briefen zu Wort kommt, gibt gerne indische Sprichwörter zum Besten und findet eines, dass die Situation gut beschreibt
Wer auf die Jagd nach einem Tiger geht, muss damit rechnen, auf einen Tiger zu treffen.
Mich hat der Tiger im Buch mit Haut und Haar gefressen.
Infos zum Buch
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Unter der Drachenwand Arno Geiger Hanser Verlag ISBN 978-3-446-25812-9 280 Seiten |
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Liebe Silvia,
Ich lese das Buch gerade und muss sagen, dass der Funke bisher leider noch nicht übergesprungen ist. Ich lese auch relativ viele Bücher über den zweiten Weltkrieg und finde es sehr wichtig, sich immer wieder it dem Thema zu beschäftigen und es nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Doch mit diesem Buch bin ich bisher noch nicht so warm geworden. Trotz der Ich-Perspektive sind mit die Personen nicht so nahe. Aber ich bin auch noch nicht mal zur Hälfte durch. Hoffentlich finde ich noch besseren Zugang. Hatte so hohe Erwartungen, weil ich so viele Begeisterte stimmen darüber gehört habe.
Liebe Grüße, Julia
Hallo Julia,
so ist das halt mit Büchern: bei der einen wird eine Saite gezupft, bei der anderen nicht.
Schade, dass es dir nicht so gefällt, mich hat es wie erwähnt sehr berührt.
Doch solche Situationen hatte ich schon: alle sind von einem Buch angetan, und ich konnte nichts damit anfangen.
Alles Gute
Silvia