Die Erfindung des Lebens
Donnerstag, 15. Oktober 2015
Hanns-Josef Ortheil
Die Erfindung des Lebens
Als stummes Kind von traumatisierten Eltern in der Nachkriegszeit großgezogen, wächst Johannes mitten in einer Großstadt isoliert auf.
Erst viel später wird erklärt, wie es dazu kam. Aber auch Johannes erfährt die Geschichte seiner Eltern erst, als er schon ein Teenager ist.
Als er eingeschult wird, bricht der Junge unter den Hänseleien der Mitschüler und dem Fehlverhalten des Lehrers fast zusammen.
Endlich nimmt sich der Vater ein Herz, verändert das Leben des Jungen:
Wir verreisen aufs Land, da gibt es die große Natur, und die große Natur ist die beste Schule, die es überhaupt gibt.
Diese Reise verändert Johannes Leben total. Und das der Eltern auch.
Die Großstadt, in der Johannes aufwächst ist Köln. Meine eigene Heimatstadt. Natürlich hat sich seit den 1950iger Jahren viel verändert, doch den Platz, an dem er wohnte, meine ich schon mal gesehen zu haben, ebenso die Kölschkneipe, natürlich auch den Rhein und die genannten Kirchen. Nur bei der Rennbahn in Weidenpesch ist es nicht mehr so einfach beim Training zuzusehen. Doch auch bei uns in der Nähe gibt es eine Trainingsbahn und oft habe ich davon geträumt einer der Jockeys würde mich mit auf den Sattel nehmen…
Zum Dom hatte schon der kleine Johannes (wie vielleicht jeder Kölner?) ein besonderes Verhältnis. Sehr passend fand ich die Beschreibung des Geruchs, der in vielen großen, alten Kirchen zu finden ist:
… als bliesen diese Steine einem ihren jahrhundertealten, leicht modrigen Atem entgegen. Etwas Säuerliches, Bitteres war in diesem Atem, etwas, das einen zurückschrecken und hilflos werden ließ…
Musik ist ein sehr wichtiges Thema in diesem Buch. Johannes beginnt früh Klavier zu spielen, erhält später wichtige Lehrer, geht in ein Musikinternat, dann in ein Gymnasium mit Musikschwerpunkt und krönt seine Ausbildung mit einem Studium in Rom.
Dort beginnt er ohne seine Eltern wieder ein ganz neues Leben. Freiheit, Unabhängigkeit, Liebe, Arbeit am Klavier, Anerkennung, Freunde.
Doch eines Tages zerplatzt dieser Traum.
Eine weitere Erzählebene spielt wiederum in Rom, aber viel später. Johannes ist wieder in seine Lieblingsstadt gekommen, um die Geschichte seiner ersten 20 Lebensjahre niederzuschreiben. Er vergräbt sich erst in seiner Arbeit und öffnet sich dann immer mehr, gibt selbst (wirklich tollen) Klavierunterricht. Die Menschen und Ereignisse dieser Zeit versöhnen ihn letztendlich mit seiner Vergangenheit.
Wenn dieser Roman wirklich die Eckpunkte des Lebens (erst 20 Jahre) des Autors trifft, dann ziehe ich meinen Hut vor diesem Menschen.
Er erfindet sein Leben nicht einmal, sondern mindestens dreimal neu: beim Ende seiner Sprachlosigkeit und der Liebe zum Klavier, in Rom und später, als er in der Schriftstellerei einen neuen Lebensinhalt findet.
Auch sprachlich ist der Roman bemerkenswert. Der Stil ist nicht immer gleich, er ändert sich je nach beschriebener Lebensphase. Einmal gibt es sogar einen unvermittelten Perspektivwechsel. Als ob er sich nicht selbst wiedererkennt.
Ich habe das Buch gerne gelesen, vor allem die Beschreibungen des Klavierspiels, der Empfindungen rund um die Musik haben mich sehr beeindruckt. 150 Seiten weniger hätten mir allerdings auch ausgereicht…
♌
Hanns-Josef Ortheil: Die Erfindung des Lebens, Verlag: btb,
ISBN: 978-3-442-73978-3, € 11,99 [D]
Anhang
Zum Abschluss noch ein Lese-Tipp aus dem Buch: „In unserer Zeit“ von Ernest Hemingway. Die Figur des Nick Adams, von Hemingway erdacht, weist verblüffende Parallelen zu dem Kind aus diesem Buch auf:
„Nicks Herz zog sich zusammen, als die Forelle sich bewegte. Er fühlte all die guten Gefühle. In diesen beiden Sätzen war sehr einfach, aber doch genau ausgesprochen, was ich so häufig selbst am Fluss erlebt hatte: ein Sich-Zusammenziehen des Herzens, ein kurzes Luftanhalten, eine Erstarrung, einen Moment des tiefen Glücks.“
Ein guter Anlass, die Stories des Meisters nochmal zu lesen. Kleine Anmerkung: in meiner Übersetzung steht an dieser Stelle „Er fühlte all die alten Gefühle.“ Dieser kleine Unterschied hätte Johannes vielleicht zu einer anderen Schlussfolgerung bezüglich dieser Texte kommen lassen.
Als ich das Buch gelesen habe, war ich nicht begeistert. Ich fand mich in einem mir langatmig geschriebenen Buch wieder. Ich hatte mich damals durch das Buch gequält. Und habe mich stets darüber gewundert, was die Anderen daran fanden… Nach deiner Beschreibung könnte ich es glatt noch mal lesen, vielleicht mit einem neuen Blick auf den Schriftsteller.
Liebe Grüße
Andrea
Ich denke auch, etwas weniger wäre mehr gewesen. Wir haben es auch in einem Lesekreis besprochen und jeder hatte andere Stellen, die man als besonders empfand. Es scheint ein Buch zu sein, das viele Emotionen auslöst. Und ist sicher ein Buch, das man zur richtigen Zeit lesen muss. Bei mir passte es wohl gerade ganz gut.
Ich habe es mal vor ein paar Jahren als eBook gelesen und fand es sehr beeindruckend. Und gerade dieser Mann, der als Kind keine Worte hatte, wird Literaturprofessor. Eine bemerkenswerte Entwicklung.
LG unbekannterweise, Ingrid (aus Köln)
Unter uns Kölnerinnen: diese dicke Buch als eBook zu lesen ist eine sehr weise Entscheidung!
Ich liebe die Bücher von Ortheil. „Die Erfindung des Lebens“ ist in meinen Augen eines seiner besten Bücher … <3
Mal sehen, was ich noch von ihm entdecken werde.