Die jungen Leute
Dienstag, 5. Mai 2015
Ein neues Buch von Salinger? Dieser Salinger mit dem Fänger im Roggen? Der ist doch schon längst tot, oder?
Ja. J.D. Salinger ist 2010 gestorben. Und ja: es gibt ein Buch mit Geschichten von ihm. Sie sind neu, weil sie erstmalig auf Deutsch veröffentlicht wurden.
„Buch“ ist vielleicht ein wenig übertrieben. Das Schriftstück hat 67 Seiten, inklusive einem Nachwort von Thomas Glavinic.
Drei Geschichten
Es handelt sich um drei Geschichten, von denen die namensgebende „Die jungen Leute“ die erste von Salinger 1940 in einer Zeitschrift veröffentlichte Kurzgeschichte ist.
Die anderen beiden im Buch enthaltenen Kurzgeschichten erschienen bis 1944 ebenfalls in kleinen Magazinen. Es handelt sich also wirklich um das Frühwerk dieses Schriftstellers, der mit seinem Bestseller „The Catcher in the Rye“ weltberühmt wurde. „Der Fänger im Roggen“ ist kaum aus dem Englisch-Lehrplan wegzudenken. Ein Buch, das unzählige Schüler gequält, und noch mehr Menschen nachhaltig beeinflusst hat. Eine Tatsache, die auch Joanna Rakoff in ihrem populären Buch „Lieber Mr. Salinger“ anschaulich beschreibt.
Aber nicht nur sein literarisches Werk macht diesen Autor zu einer Besonderheit, sondern auch sein Lebensstil. „Die Garbo der Literatur“ wie die Zeitschrift Buchkultur in ihrer aktuellen Ausgabe einen Artikel über diesen „vielleicht berühmtesten Eremit der Literatur des 20. Jahrhunderts“ schreibt.
Neben dem oben erwähnen Roman von Rakoff und diesen Kurzgeschichten veröffentlichte der Piper Verlag auch noch dieses Jahr den Roman von Frédéric Beigbeder „Oona und Salinger“. Dieser beschreibt die kurze Affäre zwischen Salinger und der späteren Ehefrau Charlie Chaplins. Ausserdem erschien vor kurzem ein biographisches Porträt „Salinger. Ein Leben“; einer der Autoren veröffentlichte 2013 auch eine Filmdokumentation mit dem Namen „Salinger“.
Ein Salinger Boom?
Wie kommt das eigentlich? (Rethorische Frage, ich habe keine Ahnung).
Interessanter finde ich auch die Frage:
Was erwartet uns noch?
Salinger zog sich bereits in den 1950iger Jahren aus dem öffentlichen Leben total zurück. Die letzte Veröffentlichung erfolgte 1965. Doch Gerüchten zufolge war er in den letzten 45 Lebensjahren nicht unproduktiv. Er hat nur einfach nichts mehr veröffentlicht. Sein Nachlass wurde auch noch nicht geöffnet.
Vielleicht dauert das auch insgesamt 100 Jahre wie bei Mark Twain. Wer weiß? Ich nicht und bis 2110 werde ich nicht durchhalten.
Doch zurück zu den drei Geschichten.
„Die jungen Leute“
beschreibt eine Party. Eine Party von jungen Menschen, zumeist Studenten. Gastgeberin ist Lucille Henderson. Sie versucht, nachdem „die Party ordentlich in Fahrt gekommen war“ auch die Außenseiterin Edna einzubinden und stellt ihr William Jameson junior vor. Die beiden führen eine verkrampfte Unterhaltung auf dem Balkon, Bill reagiert auf Ednas Annäherungsversuche nicht und will einfach nur zurück in den Raum, um weiter mit einigen anderen jungen Männern den Star des Abends „die kleine Blonde“ zu hofieren.
Kommt mir alles sehr bekannt vor: ein Party, eine Außenseiterin, eine hübsche, hinter der alle Jungs her sind. Oberflächliche Gespräche, Alkohol, Zigaretten, laute Musik. Wie heute auch. (Pardon, zumindest wie damals, als ich noch zu den jungen Leuten gehörte…). Das Setting dieser Geschichte ist somit irgendwie zeitlos. Interessant ist die im Gespräch verwendete Sprache, kurze, oft nur halbe Sätze, ein wenig zeitgemäßer (damalige Zeit) Slang aber alles noch jungen Leuten aus gutem Hause angemessen. Die Dialoge sind lebendig, die Beschreibungen bildhaft. Kopfkino läuft.
„Geh zu Eddie“.
Hier wurde der wohl am häufigsten in der Geschichte vorkommende Satz als Titel gewählt. Anders als in der ersten Geschichte war mir anfangs nicht so ganz klar, wie die beiden Protagonisten zueinander stehen.
Da ist zum einen die schöne Helen, die in einem wohl ausgestatteten Zimmer mit Bad ihrer Körperpflege nachgeht, als das Hausmädchen den Besuch von „Mr Bobby“ meldet.
Helen zieht sich „ihren königsblauen Morgenmantel so zurecht, dass er ihre langen nackten Beine bedeckte“ und lässt bitten.
Wer ist Helen? Eine reiche, verwöhnte Frau? Eine Prostituierte?
Und wer ist Bobby?
Das klärt sich im Laufe des Gesprächs: Bobby ist Helens Bruder, er versucht die Schauspielerin dazu zu bringen einen Job anzunehmen. Diesen würde eben dieser Eddie bieten.
Doch Bobbies Einflussmöglichkeiten auf seine Schwester sind gering. In dieser Geschichte steht für mich die bildhafte Beschreibung des Raumes und der beiden Geschwister im Vordergrund:
Die Sonne, die nun auf beiden lag, sättigte ihre milchige Haut, bei Bobby dagegen offenbarte sie lediglich dessen Schuppen und die Säcke unter seinen Augen.
Die Atmosphäre eines verschwenderisch ausgestatten, sehr weiblichen Boudoirs wird heraufbeschworen. Das steht mir alles klar vor Augen. Verschwommen ist für mich aber auch nach dem Gespräch der beiden das tatsächliche Verhältnis. Ist da etwas mehr, als es sich für Geschwister gehört? Lebt Bobby von den Gagen seiner Schwester? Weiß er, dass sie ihn belügt? Auf mich wirkt gerade diese Geschichte wie ein Romanfragment. Ich wüsste zu gerne mehr!
Das Meisterstück dieser Geschichtensammlung ist für mich
„Einmal die Woche bringt dich schon nicht um“
März 1944. Ein junger Mann, wohlhabend, verheiratet, aus gutem Haus packt einen Koffer. Er zieht in den Krieg. Seine junge, naive Frau hat den Ernst der Zeit wohl nicht ganz begriffen. Der Krieg ist halt nicht in Amerika nagekommen. Sie gibt ihm gut gemeinte Ratschläge:
Die Kavallerie ist reizend… Ich finde diese kleinen Schwertdinger so hinreißend, die die da am Kragen haben.
Ehe währt noch nicht sehr lange: „seit drei Jahren ging das nun, und immerzu hatte sie mit ihm im Kursiven gesprochen.“
Die junge, verwöhnte Virginia sorgt sich nicht um ihren Mann. Eher darum, dass er hoffentlich nach England kommt und ihr schöne Stoffe, z.B. Tweed mitbringt.
Er sorgt sich nicht um seine Frau, sondern um seine Tante.
Er versucht Virginia dazu zu bringen die alte Dame einmal pro Woche ins Kino auszuführen. Das würde sie nicht umbringen, wie er mehrmals wiederholt. Er weiß, das Virginia dazu keine Lust hat, denn „sie ist so plemplem“.Die Tante, nicht Virginia.
Im zweiten Teil der Kurzgeschichte besucht er seine Tante in ihrem schönen Zimmer im oberen Stockwerk. Sie wirkt liebenswürdig, leicht schrullig und gar nicht „plemplem“. Er will sich auch von ihr verabschieden. Sie ist im wichtig.
Er hatte gewollt, dass sie die eine Frau im Jahr 1944 war, die von keinem die Sanduhr im Blick behalten sollte. Jetzt wusste er, dass er ihr seine eigene geben musste.
Im Angesicht seiner Tante erlaubt er sich an seinen bevorstehenden Kriegseinsatz und seine möglichen Konsequenzen zu denken. Bei seiner oberflächlichen Frau war das nicht möglich.
Sie führen ein liebevolles Gespräch über die Vergangenheit. Erst am Ende geht dem Leser auf, dass die Tante in dieser vergangene Zeit Zeit lebt. Sie lebt in der Zeit, als ihre Sammelalben, mit denen sie den Tag verbringt, entstanden sind. Er schafft es nicht zu ihr durch zu dringen, ihr zu sagen dass er auch in den Krieg zieht. Denn sie wartet immer noch auf die Heimkehr desjenigen den sie ziehen ließ. Ebenfalls in den Krieg. Aber in einen, der schon Geschichte ist.
Diese letzte Geschichte ist meisterhaft. Tolle Dialoge, sehr gute Beschreibung des Umfeldes. Der Leser weiß direkt wen er vor sich hat, wie die Protagonisten leben, was ihnen wichtig ist. Wie die Beziehungen zwischen ihnen aussehen. Ich habe diese Zimmer vor Augen, die Handelnden, die Atmosphäre. Und obwohl es eine kurze Erzählung ist, wirkt sie rund, alles ist gesagt.
Ergänzt werden die drei Erzählungen von einem Nachwort von Thomas Glavinic, der das Phänomen Salinger in verschiedenen Facetten zu ergründen versucht.
Dann gibt es noch einen Lebenslauf, der die drei Geschichten zeitlich gut einordnet und einen Überblick über sein veröffentlichtes Werk und die wichtigsten Lebensstationen gibt.
„The Young Folks“ und „Go See Eddie” wurden 1940, „Once A Week Won’t Kill You“ 1944 veröffentlicht.
Ich sehe für mich eine Steigerung von Geschichte zu Geschichte und kann mir vorstellen, dass er mit jeder den Geist der Zeit und des beschriebenen Milieus erfasst hat. An den Originaltiteln sieht man auch, dass der Übersetzer sich da ganz nah am Original gehalten hat.
Ich bin jetzt neugierig, diese Texte auch mal im Original zu lesen. Außerdem sind die „Nine Stories“ auf meinem Wunschzettel gelandet.
Dadurch, dass Salinger jetzt durch die vielen Veröffentlichungen so präsent ist, ist auch der „Fänger im Roggen“ bei mehreren meiner Bekannten wieder auf der ToDo-Liste gelandet. So auch bei Astrid. Vielleicht schreibt sie hier bald darüber?
J.D. Salinger: Die jungen Leute, Piper Verlag, ISBN9783492056984, 80 Seiten, gebunden, € 14,99 [D]
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