Die Sterblichen
Donnerstag, 21. Mai 2015
Schauplatz: China. Hun Jiang, eine kleine chinesische Provinzstadt.
Zeitpunkt: 21.03.1979
Es ist Frühlingsanfang.
Eigentlich eine schöne Zeit.
Aber nicht für Lehrer Gu und seine Frau Denn heute soll ihre Tochter Shan hingerichtet werden.
Shan war eigentlich eine sehr linientreue Jugendliche. Doch später entwickelte sie sich zur „unbußfertigen Konterrevolutionärin“.
10 Jahre Gefängnis liegen schon hinter ihr, mit einem erneuten Verfahren wurde die Todesstrafe verhängt.
Es war Lehrer Gu nie zuvor in den Sinn gekommen, dass er und seine Frau für die Kugel zahlen mussten, die seine Tochter töten würde, doch warum diese Absurdität in Frage stellen, wenn er nicht dazu berechtigt war? Trauer, Abschied und sogar eine Beerdigung sind verboten. Nach und nach erfährt der Leser mehr über die junge Frau und was sie vor und auch nach ihrem Tod noch durchmachen muss.
Aberglaube und religiöse Zeremonien sind offiziell verboten. Stattdessen gibt es z.B. eine „Denunziationszeremonie“, in der die Delinquentin dem Volk präsentiert wird. Dabei wird eine Volksfest ähnliche Stimmung produziert. Die ganze Stadt wird zusammengetrieben und singt passende Lieder.
Total grotesk! Vor allem, da die Taten, die Shan während der Linientreue verübte, nach unseren Maßstäben wesentlich schlimmer waren. So hat sie z.B. eine Schwangere getreten. Das Kind, das danach geboren wurde, Nini, war verkrüppelt. Heute lebt Nini, inzwischen 12 Jahre alt, mit ihren vielen jüngeren Schwestern und den Eltern beengt in einer kleinen Wohnung und ist dort die Magd für alle.
Weitere Hauptpersonen sind die Rundfunksprecherin Kai, das Müllsammlerehepaar Hua, der einfältig wirkende Bashi und der kleine Tong, des einziger Freund sein kleiner Hund Ohr ist.
Alle leben in einer kleinen Stadt, in einer entlegenen chinesischen Provinz. Und alle Schicksale werden in dem Buch fein miteinander verknüpft. Zum Beispiel bekommt Nini oft von den Gus ein Frühstück, denn zu Hause reicht das Essen nicht für die vermeintlich Wertlose, die doch alleine den ganzen Haushalt schmeißt.
Kai, mit einem hochgestellten, sie verehrenden Mann, verheiratet, langweilt sich und sucht die Nähe zu antikommunistischen Vereinigungen. Sie ging mit Shan zur Schule und sucht nach ihrer Hinrichtung die Nähe von Frau Gu, um sie zur Auflehnung zu bewegen.
Das Ehepaar Hua lebte lange Zeit auf der Straße und sammelte neben Müll auch Kinder auf, die oft als Säugling (natürlich alles Mädchen) auf der Straße abgelegt wurden.
Bashi, der Sohn eines Helden, und als solcher ein gutes Leben genießend ohne arbeiten zu müssen, ist eine Art einfältiger Philosoph, und möchte unbedingt mal ein nacktes Mädchen sehen.
Während Tong, der auf dem Land bei seinen Großeltern aufwuchs, seit einiger Zeit bei seinen Eltern lebt um die Schule besuchen zu können. Im Stadtleben gibt ihm nur sein Hund Ohr Geborgenheit. Doch Ohr verschwindet eines Tages. Auf der Suche nach dem Hund begegnet Tong Bashi, folgt ihm zu einer Versammlung und verändert dadurch sein ganzes Leben.
Alle Protagonisten kreuzen die gegenseitigen Lebenswege. Über allem herrscht eine Partei, die die Kultur in einem riesigen Land beherrscht. Ein Land das von Willkür, Korruption, Armut und unbegreiflichen Ungerechtigkeiten geschüttelt wird. Durch die großen Entfernungen und der schlechten Infrastruktur, werden auch die örtlichen Parteikader manchmal sehr unsicher, weil ihnen nicht klar ist, was plötzliche neue Strömungen zu bedeuten haben. Werden sie morgen noch gelten?
Es gibt immer wieder sehr poetische Passagen, doch meistens ist das Buch eher hart und unprätentiös. Das geschilderte Leben ist für uns Westler unvorstellbar. Manchmal gilt das auch für die Protagonisten selbst:
Dieses Leben, es ergibt keinen Sinn, nicht wahr?
Dies dachte ich mir beim Lesen des Öfteren. Es handelt sich um eines dieser Bücher, bei denen ich dauernd denke: man, was habe ich es gut!
Alles sehr tragisch und grausam. Trotzdem blitzt auch immer wieder Humor auf:
Zum Beispiel in dieser Beschreibung eines Restaurants:
Die Gerichte waren fettig, stark gewürzt und überteuert, wie es von Restaurants erwartet wurde.
Wichtig sind auch nicht nur die Hauptpersonen dieses Buches, sondern auch die vielen kleine Episoden und beschriebenen Schicksale. Aufmerksames Lesen lohnt sich, denn auch einige Statisten erscheinen oft mehrmals. Immer wieder gibt es auch Absätze, die die Gedanken Unbeteiligter beschreiben. So werden die Beziehungsgeflechte immer komplexer.
Stellung der Frau
Geht es eigentlich fast allen in diesem Buch schlecht, so gibt es eine Gruppe, die am schlimmsten dran ist. Mal wieder die Frauen. Sie sind die Rechtlosen unter den Unterdrückten. Nach außen herrscht zwar Emanzipation. In den Familien werden die Frauen weiterhin wie Sklaven behandelt und lassen sich das wie selbstverständlich gefallen.
„Wenn du ein Mann bist, wirst du eine gute Frau haben, die dich auf den Knien bedienen wird.“
(sagt Tongs Mutter zu ihrem Sohn, während sie ihrem besoffenen Mann die Füße wäscht.)
Männer dagegen sind unfehlbar:
„…schließlich war er ein Mann, seine Unzulänglichkeit verzeihlich …
Fordert eine Frau ihr Recht ein, wird so über sie gesprochen:
… alle diese Frauen, die ohne die Zustimmung ihrer Männer tun können, was sie wollen. Sie glauben, sie wissen viel über die Welt, aber sie handeln, als hätten sie kein Gehirn.
Autorin
Die Autorin, Yiyun Li, verlebte die ersten 24 Jahre ihres Lebens selbst in China. In der im Buch beschriebenen Zeit lebte sie selbst in Beijing.Als Immunologin bekam sie ein Stipendium in den USA und lebt dort seit 1996. Sie unterrichtet an der University of California und veröffentlichte bereits mehrere Kurzgeschichten und Essays. Dies ist ihr erster Roman. Sie ist Herausgeberin der Literaturzeitschrift „A public Space“ .
Fazit
Dieses Buch ist bittersüß. Bitter, wegen der Unglaublichkeit der Vorgänge. Süß, weil es doch immer wieder Menschlichkeit, Liebe und Poesie gibt.
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Yiyun Li: Die Sterblichen, dtv, ISBN 978-3-423-14096-6, 382 Seiten, € 12,90 [D]