John Boyne: die Geschichte eines Lügners
Sonntag, 24. Januar 2021

Woher nehmen Autoren ihre Ideen?
Maurice Swift ist ein sehr gut aussehender junger Mann. Hoch ambitioniert. Er will unbedingt berühmt werden und das am besten als Schriftsteller. Als er den bereits erfolgreichen Autor Erich Ackermann kennenlernt, erkennt Maurice schnell, dass dort eine gute Geschichte zu holen ist. Der Roman begleitet Maurice durch einen großen Teil seines Lebens, wobei die erste Hälfte des Buches aus der Sicht einiger Menschen beschrieben wird, die sich mehr oder weniger auf ihn einlassen. In der folgenden Buchbesprechung folge ich diesen verschiedenen Stimmen. Ohne Spoiler geht es dabei leider nicht. Ich versuche aber möglichst wenig zu verraten.
Erich
Erich Ackermann ist um die 60 Jahre alt, Uni-Dozent und mit seinem letzten Roman sehr erfolgreich. Seine Lesereisen im Jahr 1988 führen ihn auch nach Berlin. Dort fällt ihm ein junger Kellner ins Auge. Dieser sieht so gut aus, dass seine Leidenschaft sofort erwacht. Sie gehen was zusammen trinken, unterhalten sich gut. Der junge Mann, Maurice Swift, möchte auch Schriftsteller werden. Nicht nur das, er will ein berühmter Autor werden.
Erich ist total verliebt, bietet Maurice einen Job an worauf dieser ihn auf verschiedenen lesereisen begleitet. Auf Erichs schüchterne Avancen geht Maurice nicht ein. Dafür entlockt er Erich ein dunkles Geheimnis aus dessen Vergangenheit.
Erich gibt und gibt und bekommt nichts zurück. Irgendwann verliert er den Kontakt zu Maurice, der einen Bestseller veröffentlicht, der Erichs Leben zerstört.
Erich ist eine sehr tragische Figur, der sein Schicksal aber einfach annimmt.
Gore
Ein paar wenige Jahre später. Gore Vidal ist eine Ikone der Literatur. Er und sein Partner Howard leben in einer Villa mit Blick aufs Meer. Dort empfangen sie häufig Besuch. So z.B. auch den ebenfalls homosexuellen Dash, ein eher mittelmäßiger Schriftsteller. Dieser hat einen auffällig hübschen jungen Mann im Schlepptau. Dieser heißt Maurice.
Ich liebe diesen Abschnitt, der aus Gores Sicht geschrieben ist. Sein Leben ist so dekadent. Gore ist ziemlich gewitzt und schlau. Er kennt Gott und die Welt. Gott vielleicht noch nicht persönlich, dafür aber zwei Päpste. So hat er ein Gästebett in dem unter anderem Kissinger, Prinzessin Margaret, Paul Simon und Paul Newman geschlafen haben.
Gores leben im Jetset wäre wahrlich ein toller Stoff für einen Roman! Das hat sich Maurice sicher auch gedacht.
Doch Gore ist so schlau, dass er Maurice durchschaut und dessen Anbiederungen abblitzen lässt. Allerdings schweren Herzens, weil der Junge einfach so gut aussieht.
Glück gehabt, Gore!
Sehr schön auch, dass ,später im Roman, dieser Besuch auch noch aus der Sicht von Maurice beschrieben wird.

Edith
Sprung ins Jahr 2000. Edith ist Dozentin und renommierte Autorin. Sie arbeitet fieberhaft an ihrem neuen Buch. Seit 5 Jahren ist sie mit einem Autor verheiratet, der mit seinem Erstling viel verdient hat und danach mehr in der Versenkung verschwand. Ihr ahnt es: er heißt Maurice.
Da ich als Leserin Maurice ja schon kenne, war klar: Edith muss aufpassen. Macht sie aber nicht. Immer will ich ihr zurufen: pass auf! Schmeiß ihn raus! Doch sie kann mich nicht hören.
Die Konstruktion dieses Kapitels, die Perspektive von Edith und die Situation aus der sie ihre Geschichte heraus erzählt: einfach super. Mehr will ich dazu nicht verraten.
New York
Nur die letzten 150 Seiten des Buches sind aus Maurice Sicht geschrieben.
Zwei Abschnitte aus seinem Leben werden damit beschrieben. Etwa 8 Jahre nach den von Edith beschriebenen Ereignissen, lebt Maurice mit seinem Sohn Daniel allein in New York. Sein Bücherregal kann mehrere neue, erfolgreiche Romane von ihm selbst aufweisen. In New York hat er eine Literaturzeitschrift gegründet, die jungen Autorenstimmen die Möglichkeit bietet Erzählungen zu veröffentlichen.
Maurice hat immer von einem Kind geträumt. Er geht ganz liebevoll mit dem Jungen um, der schon mal Probleme in der Schule und starkes Asthma hat. Doch er wirkt irgendwie auch genervt von den Vaterpflichten.
Gut gefällt mir auch, dass ich als Leserin einfach in die neue Situation des nächsten Abschnittes hineingeworfen werde. Es dauert immer ein wenig, bis ich mich zurechtfinde, doch diese kleinen Rätsel machen mir Spaß. So wie hier: wo kommt plötzlich das Kind her? Oder auch im nächsten Abschnitt: wo ist Daniel jetzt? Die Auflösung kommt immer, aber manchmal wünschte ich mir fast sie nicht zu kennen, weil Maurice wirklich alles für seinen Eigenschutz macht.
London
Noch ein paar Jahre später. Maurice hat die Zeitung verkauft, lebt in London, ist Alkoholiker und dabei sich zu Tode zu saufen. Sein Geld reicht dafür. Ein neues Buch fängt er erst gar nicht an. Jeden Tag ein anderer Pub, jeden Tag eine bestimmte Getränkefolge. Jeden Tag betrunken nach Hause. Er ist ein Wrack.
Aber er nimmt das irgendwie leicht. Das ist sicher eine der Stärken dieses Romans: obwohl viele tragische, dramatische, traurige Dinge passieren, zieht das Buch nicht runter. Es ist leicht, heiter, voller Humor und Ironie. Ganz mein Ding!
Doch zurück nach London. Hier lernt Maurice einen jungen Mann kennen, der ihn interviewen und vielleicht eine Biographie, auf alle Fälle eine Studienarbeit über ihn schreiben möchte. Maurice ist total geschmeichelt. Endlich widmet ihm jemand wieder Aufmerksamkeit. Sie treffen sich in Pubs. Im Alkoholnebel erzählt Maurice vielleicht zu viel.
In diesem Abschnitt erfuhr ich endlich viel über Motive und das Innenleben von Maurice. Er rollt auch einige Ereignisse aus der Vergangenheit aus seiner Sicht auf. Sympathisch wird er dadurch nicht. Will Maurice auch nicht.
Vorbilder
Viele Personen, die es tatsächlich gab und gibt werden im Buch und vor allem im Abschnitt aus Gores Sicht aufgeführt. Ob auch die fiktiven Personen ein reales Vorbild haben? Darüber würde ich mit John Boyne gerne mal reden. Denn um Mutmaßungen anzustellen kenne ich mich im Privatleben von Autoren zu wenig aus. Es werden auch immer wieder Titel fiktiver Bücher genannt. Ob Boyne dabei auch an reale Romane gedacht hat?

Maurice der Lügner
Maurice ist ein ganz und gar intriganter, egozentrischer, gefühlloser Mensch. Er geht über Leichen, was zählt, ist einzig der Erfolg. Er kann einigermaßen schreiben, hat aber einfach keine Ideen. Die klaut er sich halt. Dabei ist er auch sehr kreativ. Sein Lügengeflecht funktioniert über lange Zeit. Durchschaut wird er selten, meist zu spät. Auf dem Klappentext wird er mit Ripley vergleichen, das hinkt meiner Meinung etwas, weil Ripley ein netter Typ ist, Maurice möchte ich nicht begegnen.
Er punktet mit seinem Äußeren, und er geht bis zum Äußerstem. Er ist skrupellos.
Somit ist er ein Sinnbild vieler Kritikpunkte unserer Gesellschaft: Körperkult, harte Manager, jeder ist sich selbst der Nächste, es geht um Macht, Geld und Ruhm.
Meiner Meinung nach hat Boyne in seinem Roman nicht nur den Literaturbetrieb, sondern auch die Menschheit an sich auf die Schippe genommen.
Autoren, die gerne schreiben wollen, aber keine Idee haben, bekommen hier sicher Anregungen, die sie aber nicht so übernehmen sollten.
Obwohl Maurice ein schrecklicher Mensch ist, macht es echt Spaß ihm zu folgen.
Fazit
Die Geschichte eines Lügners von John Boyne ist ein spannender, tragischer und auch amüsanter Roman. Das Buch ist durchdacht konstruiert. Durch die verschiedenen Perspektiven und Zeitsprünge wird er nie langweilig. Sehr gute Unterhaltung!
Weitere Bücher des Autors
John Boynes erfolgreichstes Buch ist sicher „Der Junge im gestreifen Pyjama“. Eine absolute Leseempfehlung.
Auf diesem Blog haben wir noch folgende Bücher von ihm rezensiert:
Cyril Avery
Der Junge auf dem Berg.

Das Buch reizt mich auch total – allein schon, weil es von John Boyne ist.
Hallo Mona,
für mich ist es erst der zweite Boyne, nach dem Jungen im grauen Pyjama. Die Leichtigkeit ist bei beiden gegeben. Ansonsten ein ganz anderes Buch, anderes Thema. Das finde ich klasse. Manche Autoren bleiben an einem Thema so kleben.
Liebe Grüße
Silvia