Lutz Seiler: Kruso
Freitag, 16. Januar 2015
Frühjahr 1989. Ed studiert in Halle Germanistik und ist Experte für Georg Trakl. Er kann sehr gut auswendig lernen und hat in seinem Gehirn einen riesigen „Bestand“ an Gedichten und Texten.
Aber seit seine Freundin G. bei einem Unfall (bereits im Vorjahr) ums Leben kam, hat auch Ed keinen Spaß mehr an seinem Dasein.
Er bricht auf, nach Hiddensee, eine Insel, die in der DDR als beliebtes Ferienziel gilt und stark bewacht wird, weil von dort aus schon viele die Republikflucht versucht haben.
Unterkünfte sind dort schwer zu bekommen. Am ersten Tag scheitert sein Plan, einen Aushilfsjob zu bekommen, übernachtet im Freien und bekommt den Tipp, es doch mal beim „Klausner“ zu versuchen. Eine Gaststätte, die zu einem Betriebsferienheim gehört und einen schönen Blick aufs Meer bietet.
Dort bekommt Ed tatsächlich einen Job als Abwäscher und eine Unterkunft. Die Belegschaft ist wie eine große Familie. In Momenten des größten Kundenaufkommens stärken Sie sich durch abwechselndes Skandieren eines Gedichtes:
„Warum ziehen der Mond und der Mann zu zweit so bereit nach dem Meer.
Am Hochried vorbei, am Niedermoor vorbei, zieht das Boot nach dem Meer“
Dieses Gedicht ist nicht, wie ich erwartet habe, vom Autor, sondern die Übersetzung von Melopee von Paul van Ostaijen.
Es gibt noch viele andere Rituale zwischen den Mitgliedern der Belegschaft, der schweigsame Ed fügt sich nur zögernd ein.
Kern des Klausners ist Kruso. Ein Deutschrusse, der alles zusammenhält im Klausner und auch darüber hinaus bei den „Esskaas“ (Servicekräften) der ganzen Insel höchstes Ansehen genießt und einiges auf die Beine stellt.
Ed stellt in Bezug auf Kruso fest:
„In seiner Lebensverwirrung hatte er einen unvergleichlichen Lehrer gefunden“
Im Laufe des Buches gehen die beiden eine enge Beziehung ein. Ed mausert sich vom Schatten über Hündchen zu Krusos Freitag und von da zum Freund und Bruder .
„Die Freiheit ist da, tief in uns, sie wohnt dort, so tief wie unser innerstes Ich.“
Kruso hat eine Mission. Er will Flüchtlingen verdeutlichen, dass die wahre Freiheit im Menschen liegt und eine Flucht aus dem Staat unnötig wird.
„Hier im Vorhof des Verschwindens fragt keiner, wohin einer noch gehen könnte“
Die Freiheit hat einen speziellen Lockruf und verspricht jedem etwas anderes:
„Erlösung vom Beruf. Vom Mann. Vom Zwang. Vom Staat“
Kruso seinerseits verspricht ebenfalls Erlösung innerhalb von drei Tagen mit einem speziellen Programm mit vielen Ritualen, wie der Suppe, der Vergabe, der Arbeit…
Allerdings holt die Gegenwart Kruso ein. Plötzlich ist es möglich, die Grenzen zu überschreiten. Keiner kommt mehr zu ihm. Die äußerliche Freiheit ist doch stärker. Einem Leben ohne Mission ist Kruso aber nicht gewachsen.
Der Klausner zerbricht, wie auch der ganze Staat. Kruso wird immer schwächer, Ed immer stärker. Die Rollen Freitag – Robinson kehren sich um.
Das Buch schließt mit einem Epilog, der in der ersten Person Singular geschrieben ist. Dort versucht der Autor die für ihn noch offenen Enden zu verknüpfen. Auch vorher ist dem Leser schon der Gedanke gekommen, ob vielleicht Herr Seiler auch schon mal in der Hiddenseer Gastronomie tätig war…
Vielleicht noch kurz einige Bemerkungen zur Gestaltung: es gibt ein Inhaltsverzeichnis und richtige Titel der Kapitel, hinten im Buch befindet sich auch eine schematische Zeichnung des Klausners, die mir den Überblick erleichtert hat. Der Buchrücken wird von einem Scherenschnitt des Seepferdchen-ähnlichen Umrisses der Insel geziert. Das Coverbild selbst hat im Hintergrund eine (See?-) Karte, in der man Dornbusch, Heimat des Klausners, entdecken kann. Karten und deren Verlässlichkeit ist auch eines der im Buch benutzten Bilder.
Man kann dieses Buch als eine Art Entwicklungsroman begreifen. Es ist sehr anspruchsvoll, vielschichtig und ehrlich gesagt ist mir auch nicht alles klar. Viele offene Fragen bleiben mir am Schluss unbeantwortet.
Das Buch ist durchwoben von Poesie, surrealen Erlebnissen, vielen liebenswerten und einigen widerlichen Protagonisten. Es hat aber auch viele humorige Nebensätze. Doch insgesamt bleibt für mich eine düstere Weltuntergangsstimmung, die so gar nicht zu den Aussagen in anderen Büchern, die diesen Sommer in der DDR beschrieben, passt.
Schwere, aber lesenswerte Kost. Dieses Buch wurde 2014 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
Einen Bericht über eine Lesung mit Lutz Seiler findet ihr hier.
Lutz Seiler: Kruso, Suhrkamp Verlag, ISBN: 978-3-518-42447-6, 484 Seiten, gebunden 22,95€
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