Micha Lewinsky: Sobald wir angekommen sind
Sonntag, 1. September 2024
Ein Fluchtroman
Der Urkainekrieg hat mich sehr in Alarmbereitschaft gesetzt. Doch Ben Oppenheim, der tragisch-komische Held dieses Romans verfällt in Panik und überlegt, in welches Land er bei einer Eskalation flüchten sollte. Doch auch sonst ist Bens Leben kein Zuckerschlecken. Er hat viele Probleme.
Angst und Humor
Bens Ängste vor dem Atomkrieg möchte ich nicht von der Hand weisen, nehmen aber paranoide Züge an, als er mit seiner Noch-Frau und den Kindern bei Nacht und Nebel das Land verlässt. Die beiden sind davon überzeugt, dass auch die vermeintlich sichere Schweiz kein Zufluchtsort mehr ist.
Doch Ben ist Jude. Liegt bei ihm Flucht in den Genen?
Sein Trauma war ein Privileg. Wenn es ums Flüchten ging, hatte er einen Erfahrungsvorsprung. Dafür wollte er sich nicht rechtfertigen. Ein Blinder musste auch nicht erklären, warum er sich im Dunkeln besser zurechtfand.
Schließlich hätten Juden über Jahrhunderte eine bessere Lebenserwartung gehabt, wenn sie geflüchtet seien, vor den vielen Versuchen sie auszurotten.
Hört sich hart an? Ist es auch, trotzdem humorvoll. Lewinsky spielt mittels schwarzem Humor mit der Geschichte des jüdischen Volkes. Darf man das? Ich denke schon, insbesondere, wenn man damit auch über sich selbst lacht.
Dieser Stil erinnert mich sehr an den von Dana von Suffrin und ihrem Buch Otto.
Flucht
Flucht ist das beherrschende Thema für Ben. Nicht nur die Flucht vor Krieg oder religiösen Anfeindungen, er flieht vor allem: den Kindern, der Frau, der Freundin, der Arbeit, dem Vater und vor allem vor sich selbst.
Ben ist sehr gut situiert aufgewachsen, hatte kurz Erfolg als Schriftsteller, hat seitdem aber nichts mehr zustande gebracht. Hat kein Geld und möchte trotzdem nicht auf das Hemd aus handgewebtem Stoff verzichten (denn die halten länger).
Das ist irgendwie nett, aber eigentlich möchte ich ihn nach am liebsten mal durchschütteln, um seinen Kopf zurechtzurücken.
Ben kann auch für nichts etwas. Er gerät in schwierige Situationen, sucht nie aktiv nach einem Ausweg. Wer nichts macht, macht auch nichts fasch. Auseinandersetzungen meidet er auch. Er nimmt immer den vermeintlich einfachsten Weg und sucht sich dadurch den steinigen aus.
Zum Glück fällt er immer wieder auf die Füße, denn sympathisch ist er trotzdem, als Partner wäre Ben für mich eine Katastrophe, seine Art zu leben ebenso. So wie im Titel angedeutet, wartet er immer ab. Wenn, dann. Doch dann gibt es wieder ein neues Wenn. Irgendjemand wird schon handeln und die Initiative ergreifen.
Ich hoffe, er kommt wirklich irgendwann an. Wo auch immer.
Familie
Die Ehe mit Marina ist zerrüttet. Aber finanziell kommt eine „richtige“ Trennung zu teuer. So betreuen sie ihre Kinder abwechselnd im sogenannten Nestprinzip. Das bedeutet, dass sie die gemeinsame Wohnung behalten haben, die Kinder bleiben dort, die Eltern wechseln sich ab und kommen in der restlichen Zeit irgendwo anders unter. Funktioniert hier eher mäßig gut.
Die Kinder nehmen es gelassen hin.
Auch mit seinem wohlhabenden Vater kommt Ben nicht klar. Er schafft es auch nicht, ihn um dringend benötigtes Geld anzuhauen. Sie reden nur aneinander vorbei, jeder lebt in seiner eigenen Welt.
Stefan Zweig
Ben ist Schriftsteller und hatte als solcher mit seinem Debüt auch eine gute Portion Ruhm geerntet. Doch seitdem passiert nichts mehr. Er bekommt es einfach nicht mehr hin. So versucht er sich an Drehbüchern. Da Ben Fan von Stefan Zweig ist, verfasst er eines über sein Idol. Dessen Flucht ins Exil nach Brasilien ist das Thema. Ich würde mir den Film zwar ansehen, aber die Produzentin winkt ab.
Brasilien
Das Ziel einer möglichen Flucht bei einem nahenden Atomkrieg in Europa. Nicht zuletzt, weil Stefan Zweig auch hier gelandet ist.
Also irgendwie das Ziel seiner Träume. Als sie tatsächlich dort ankommen, öffnen sich auch wirklich neue Möglichkeiten. Sehr lustig der Ausflug zu einer Farm, auf der bewusstseinserweiternde Drogen konsumiert werden.
Ben vergleicht sich und seine Erlebnisse immer mit Zweigs Erlebnissen, vor Augen hat er eine Art Paradies, doch er ist ernüchtert.
Mit Stefan Zweig beschäftigt sich Ben sehr. Er hat auch ein Drehbuch für einen Film über ihn ausgearbeitet. Immer wieder wird Zweig zitiert, oder Episoden aus seinem Leben kurz angerissen. Das gefiel mir sehr.
Krieg und Humor
Wie schon eingangs erwähnt, hat mich der Krieg in der nahen Ukraine mich auch sehr mitgenommen, vor allem im ersten Jahr. Danach habe ich mich an die Berichterstattung gewöhnt. Das ist hart und lässt mich, wenn es mir bewusst wird, fragen, was ich denn für ein Mensch bin.
Auch Nachbarn von mir haben schon überlegt wo sie den im Ernstfall hingehen könnten Witzigerweise fiel ihre Wahl ebenfalls auf Brasilien, weil der eine Schwiegersohn dort Familie hat. Solche Möglichkeiten habe ich nicht. Da wir sehr nah an einer Kaserne und einem Flughafen wohnen, müsste ich mir im Kriegsfall darüber auch nicht lange Gedanken machen.
(Ups, Fast so schwarzer Humor wie der von Micha Lewinsky. )
Nach der Ankunft in Brasilien kann Ben gar nicht glauben, dass seine Freunde in Zürich einfach so weiterleben. So fest war er vom Atomschlag überzeugt.
Fast schien es, als wäre die Flucht ein Fehlstart gewesen. Der Schiedsrichter hielt die Pistole zum Himmel gerichtet. Den Finger am Abzug. Der Rest der Welt kauerte noch angespannt in den Startblöcken. Nur die Oppenheims rannten schon um ihr Leben.“
Überhaupt Oppenheim, Atombombe? Fällt dir was auf?
Fazit
Sobald wir angekommen sind ist ein humorvoller Roman. Sehr ironisch. Ein sympathischer Held taumelt durch sein Leben. Er macht große Pläne, bekommt aber nichts auf die Kette. Sehr unterhaltsames, kurzweiliges Buch, das auch in mir die doch sehr ernsthafte Frage „was wäre wenn“ aufkommen lässt.
Empfehlungen
Dana von Suffrin: Otto
Micha Lewinskys Vater ist ebenfalls Autor
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