[Rezension] Deutsches Haus von Annette Hess
Sonntag, 11. August 2019
Kennt ihr das? Ihr geht zu einer Veranstaltung, bei der neue Bücher vorgestellt werden und ihr könnt mit keinem Buch warm werden? In der Pause wird dann von einem Buch gesprochen, dass ihr unbedingt sofort lesen müsst. So erging es mir mit „Deutsches Haus“. Als mir dann noch eine Freundin erzählte, dass sie es in einem Rutsch durchgelesen hat, war es klar. Das wird mein nächstes Buch.
Im ersten Moment kommt zwar der Gedanke hoch „Nicht schon wieder ein Holocaustbuch“, aber der Gedanke hält nicht lange. Es ist auch in dem Sinne kein Buch über den Zweiten Weltkrieg, sondern ein Buch über die Geschichtsbewältigung danach.
Die 60er Jahre
Wir befinden uns mitten in den 1960er Jahren. Und zwar so richtig. Liegt es daran, dass die Autorin eigentlich Drehbücher schreibt? Ich habe das ganze Geschehen vor Augen, sogar das Essen in dem Restaurant „Deutsches Haus“ kann ich riechen.
Eva ist Anfang 20 und Dolmetscherin für Polnisch. Sie lebt noch mit ihren Eltern, ihrer älteren Schwester Annegret, dem viel jüngeren Bruder Klaus und dem altersschwachen Hund zusammen. Die Eltern führen die Gaststätte „Deutsches Haus“ in Frankfurt am Main. Der Vater ist mit Leidenschaft Koch, die Mutter bedient die Gäste. Eva hat einen Freund – Jürgen. Der ist jedoch sehr zurückhaltend und hat es nicht eilig mit der Hochzeit. Sehr zum Leidwesen von Eva, die gerne eine „richtige“ Beziehung mit allem Drum und Dran führen würde.
Der 1. Auschwitz-Prozeß
In Frankfurt findet auch der erste Prozeß gegen ehemalige Kommandeure aus Ausschwitz statt. Durch Zufall wird Eva für die Übersetzung der Zeugen angestellt. Eva ist im Krieg geboren, hat aber so gut wie keine Erinnerung mehr an die Zeit. In den 60iger Jahren lebt man im Hier und Jetzt. Niemand will mehr an die schrecklichen Kriegszeiten erinnert werden. So hat Eva anfangs keine Ahnung, was der Prozeß für sie und ihre Familie bedeutet. Weder ihre Eltern noch ihr Freund interessieren sich für ihre Arbeit – im Gegenteil, jeder versucht, ihr diesen Job auszureden.
Im Laufe der Geschichte wird Eva immer mehr in die Grausamkeiten von Ausschwitz eingeweiht. Manchmal tauchen bei ihr Erinnerungsfetzen auf und bald weiß sie nicht mehr wem sie was glauben kann. Ist sie anfangs eine junge Frau, die sich mit der damals traditionellen Rolle der Frau anfreunden kann, so entwickelt sie sich im Laufe des Buches zu einer selbstbewußten Frau, die eigene Ansichten und Lebensvorstellungen hat. Das sorgt für Konflikte mit ihrem Verlobten, der sich eine Frau wünscht, die sich seinen Wünschen unterordnet.
Spannend, aber nicht immer überzeugend
Ein ungemein spannendes Buch hat Annette Hess geschrieben. Ich kann das Buch kaum aus der Hand legen und bin froh, dass ich am Wochenende genug Zeit habe, es zu Ende zu lesen. Es ist interessant zu lesen, wie das Leben in Deutschland in den 60er Jahren ablief und wie man damals zu den Geschehnissen im zweiten Weltkrieg stand. Es war eigentlich noch nicht lange her. Ich kann gut verstehen, dass man damals nicht mehr an alles erinnert werden wollte.Die Autorin hat Evas Eltern und ihren Freud Jürgen sehr überzeugend beschrieben. Sie wollten alle vergessen, was damals passierte. Evas Schwester, die sich als Kinderkrankenschwester aufopferungsvoll um die Neugeborenen kümmert, überzeugte mich als einzige aus dem Buch nicht. Ihre Motivation für ihr Handeln ist mir unbegreiflich geblieben. Auch die Berufswahl Evas überzeugte mich nicht, aber vielleicht fehlt mir dafür auch das Verständnis. Warum macht jemand Anfang der 60er Jahre ein Dolmetscherdiplom für die polnische Sprache? Ich denke, die Beziehungen zu Polen waren damals nicht gerade gut, so dass ich nicht glaube, dass es großen Bedarf an Polnisch-Dolmetschern gab. Aber für Evas Rolle im Buch ist diese Ausbildung essentiell.
Sehr spannend ist auch die Person des jungen Anwalts aus dem Ausland, der sehr persönliche Gründe für seine Anwesenheit in Deutschland hat. Egal welche Erfahrungen man im Krieg gemacht hat, jeder hat ein starkes Trauma davongetragen.
Ein wichtiges Buch, um die Geschehnisse von damals nicht zu vergessen und um sich auch immer wieder klar zu machen, wieviel Leid damals hervorgerufen wurde. Und zwar bei allen.
Fazit
„Deutsches Haus“ von Annette Hess spielt in einer Zeit, in der keiner mehr an den zweiten Weltkrieg erinnert werden möchte. Als 1963 der erste Ausschwitz-Prozess stattfindet, erhält die Protagonistin Eva den Auftrag, die Aussagen der polnischen Zeugen zu übersetzen. In dem Prozess wird die deutsche Bevölkerung erstmal umfassend über die Greueltaten der Nazi in den Konzentrationslagern informiert. Die Autorin hat um diesen Prozess eine überzeugende Rahmenhandlung geflochten, die spannend zu lesen und zusätzlich informativ ist. Sehr lesenswert!
Liebe Astrid,
ich habe dieses Buch aus Zeitmangel ungekürzt gehört und war auch überrascht und begeistert. Deine Kritik am Handlungsstrang der Schwester verstehe ich. Auch für mich war er nicht ganz nachvollziehbar. Ich glaube, ich habe sogar vergessen, was es damit auf sich hatte… Hab das Buch schon im Juli gehört, hatte nur noch keine Zeit für eine Rezension.
Ich fand ganz toll am Buch, dass sich, je mehr man solche #GegenDasVergessen-Bücher liest, der Kreis immer mehr und mehr thematisch schließt. Hier konnte man mit dabei sein, wie die Prozesse gegen Nazi-Verbrecher ihren Beginn nahmen. In anderen Büchern hatte ich dieses Thema so noch nicht. Es war nur angerissen. Deshalb lese ich so oft und so gerne verschiedene Bücher das Thema betreffend. Es gibt immer noch etwas, von dem man nicht gewusst oder nicht gehört hat.
Als Hörbuch ist es sehr empfehlenswert. Dem Thema wegen konnte ich über kleine Kritikpunkte hinwegsehen und werde 5 Sterne vergeben. Dann kann ich gleich deine Rezi bei mir verlinken. Schön, dass auch du Spaß mit diesem Buch hattest.
GlG, monerl