Ich nannte ihn Krawatte
Donnerstag, 2. Juni 2016
„Ich nannte ihn Krawatte“ ist ein Roman der in Japan spielt. Ein für mich sehr fremdes, aber äusserst interessantes Land mit einer Kultur, die von der unseren recht weit entfernt zu sein scheint.
Die Autorin Milena Michiko Flašar lebt in Österreich, hat mütterlicherseits japanische Wurzeln. So ist sie eine geeignete Botschafterin die fremde Kultur in unserer begreiflich zu machen.
Zwei Männer im Park. Der eine jung, der andere schon etwas älter. Der eine hat Schuhe an, die ihm zu klein sind, der andere ist gekleidet wie ein Geschäftsmann. Sie sitzen beide den ganzen Tag im Park auf einer Bank. Nicht nebeneinander, sondern sich gegenüber. Zufällig. Eines Tages erfolgt eine vorsichtige Kontaktaufnahme. Sie sitzen nebeneinander. Meist schweigend.
Doch nach und nach öffnen sie sich dem anderen und erzählen ihre Geschichten. Wir erfahren, warum der Ich-Erzähler Taguchi Jahre nicht aus dem Haus gegangen ist und warum Ohara nicht im Büro sitzt.
Es sind Lebensgeschichten voller Tod, Trauer und unverarbeitetem Schmerz.
Sie kennen sich nicht und schaffen es doch dem fremden Menschen neben ihm ihr Herz zu öffnen.
Eine Geschichte, wie sie in jeder Großstadt spielen könnte und doch einige Besonderheiten der japanischen Gesellschaft ausweist.
Denn alles, was von der Norm und dem großen Erfolg abweicht wird verschwiegen und vertuscht. Spielkameraden aus ärmlichen Verhältnissen, Söhne, die sich Jahre in ihrem Zimmer einschließen, behinderte Kinder, Ehefrauen, die an der unpassenden Stelle lachen.
Durch die Gespräche schöpfen beide neuen Lebensmut und versuchen die Probleme, wenn auch sehr behutsam, anzugehen.
Die Probleme der beiden sind vielleicht nicht ganz auf unsere Gesellschaft übertragbar. Aber auch hier ist es natürlich denkbar, dass ich nicht mehr weiter weiß, wenn sich ein Freund umbringt, ein anderer gemobbt wird, ein behindertes Kind geboren wird, oder ich meinen Job verliere.
Allerdings geht Japan soweit um für die psychische „Störung“ von Taguchi einen eigenen Begriff zu etablieren:
Hikikomori
Als Hikikomori „sich einschließen; gesellschaftlicher Rückzug“ werden in Japan Menschen bezeichnet, die sich freiwillig in ihrer Wohnung oder ihrem Zimmer einschließen und den Kontakt zur Gesellschaft auf ein Minimum reduzieren. Der Begriff bezieht sich sowohl auf das soziologische Phänomen als auch auf die Betroffenen selbst, bei denen die Merkmale sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können. (Quelle Wikipedia)
Im Anhang des Buches steht noch, dass mehrere 100000 Menschen (meistens junge) in Japan davon betroffen sind. Diese Zahl nur geschätzt werden, da dieses sich einschließen von den Familien meist geheim gehalten wird. Doch wer weiß, wie verbreitet das hier in Europa ist?
Fazit
Das hervorstechende Highlight an diesem Buch ist die Sprache. Poetisch, ernst, hintergründig. Das Buch habe ich in einer Leserunde der Facebookgruppe „ARD-Buffet liest- alles rund ums Buch“ gelesen. Dort wurden unzählige Textstellen zitiert um die Schönheit der verwendeten Sprache zu verdeutlichen. Auch mein eBook war voller Markierungen.
Vielleicht ist der Roman etwas überfrachtet, da ich nach jedem der kurzen Kapitel das Gefühl hatte, ich müsste es nochmal lesen und bei jedem Satz mich fragte, ob ich die Bedeutung erfasst habe. Doch ich bin selbstbewusst genug, um selbst zu bestimmen an welchen Stellen ich beim Lesen verweile, welche ich mehrmals lese und was ich für mich daraus ziehe. Und da ist dieses Buch recht wertvoll für mich.
Milena Michiko Flasar: Ich nannte ihn Krawatte, btb, Taschenbuch, ISBN: 978-3-442-74656-9, € 8,99 [D]
Andere Stimmen zu diesem Buch:
Lovely Mix
Das Buch hat mich damals beim Lesen gewaltig beeindruckt!
Ich möchte noch gerne ein weiteres Buch der Autorin lesen.