Thomas Hettche: Herzfaden
Mittwoch, 21. Oktober 2020
Roman zur Augsburger Puppenkiste
Ich bin mit der Augsburger Puppenkiste aufgewachsen. Wenn ich fernsehen durfte und die Holztüren der Kiste öffneten sich, war ich Feuer und Flamme. Natürlich habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht wer hinter den Marionetten steht, wie diese Puppenbühne entstand, woher die Geschichten kamen. Das hat jetzt Thomas Hettche für mich übernommen. Entstanden ist daraus der Roman Herzfaden, der Roman der Augsburger Puppenkiste.
Das Mädchen
Der Roman hat zwei ineinandergreifende Handlungen und Geschichten. Die Rahmengeschichte handelt von einem namenlosen Mädchen. Sie ist kein kleines Mädchen mehr, aber auch noch kein richtig großes. Ihre Eltern haben sich getrennt, sie lebt bei der Mutter. Ab und an verbringt sie die Wochenenden beim Vater in Augsburg, aber eher widerwillig. Und dann schleppt er sie auch noch in ein Kinder-Puppentheater. Was soll das? Hält er sie für ein Baby? Sie entschlüpft ihm im Theater, öffnet eine Tür im Flur und entdeckt eine wundersame Welt. Sie lernt dort neue und bekannte Figuren kennen, muss ein Abenteuer bestehen und trifft auf Hatü, eine elegante Dame, die ihr ihre Lebensgeschichte erzählt.
Hatü
So wird Hannelore Oehmichen von allen genannt. Als Kriegskind aufgewachsen hat sie auch Kultur praktisch mit der Muttermilch aufgesogen. Beide Eltern Schauspieler, da lag es nahe, dass sie und ihre Schwester auch Interesse an diesem Fach zeigten.
Der zweite Erzählstrang beschreibt das Leben von Hatü, ihrer Familie und der Entstehung der Augsburger Puppenkiste. Diese wird von ihrem Vater, Walter Oehmichen, gegründet, doch Hatü ist von Anfang an dabei. Sie ist nicht nur Puppenspielerin, sondern schnitzt auch selbst Figuren. Wie zum Beispiel den Kasperl, der auch in der Rahmenhandlung noch eine wichtige Rolle spielt.
Alte Freunde
Die beiden Handlungen werden kunstvoll miteinander verwoben. Hatü erzählt ihre reale Geschichte, die Rahmenhandlung bildet einen fantastischen Gegenpart.
Ich muss zugeben, dass ich andauernd Tränen der Rührung in den Augen hatte, wenn meine Kindheitsfreunde hier wiederauftauchten. Vor allem meine Lieblingsfigur Urmel. Und als Urmel im Buch auch noch „Auts“ und „Tsuldigung“ sagte, tropfte es leicht auf das Buch.
Ich bin nicht gerade die, die bei Büchern regelmäßig weint, doch ich las das Buch im Zug, auf der Hin- und Rückfahrt zu einer Familienfeier. Dort habe ich zwei Tage mit dem Austausch von Kindheitserinnerungen verbracht umrahmt von diesem Buch, das mich auch viel an die Vergangenheit denken ließ. Ich denke, deshalb hat es mich emotional so mitgenommen.
Dann hat aber auch Hettches die Fähigkeit diese Figuren so zu beschreiben, dass sie vor meinem inneren Auge erschienen. Der Roman war für mich wie ein Film, der in meinem Kopf ablief.
Stücke
Anfangs führte die Puppenkiste vor allem Märchen auf.
Zwei Stücke sind besonders in die Erzählungen Hatüs integriert. Zum einen Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupery und dann natürlich noch Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Von Michael Ende. Die Bedeutung dieser Stücke für die Puppenbühne ist immens und wird in Herzfaden stark herausgestellt.
Natürlich habe ich beide Bücher aus meinem Regal herausgesucht, sie liegen für ein Re-Read bereit.
Gestaltung
Als ich las, dass es einen neuen Roman von Thomas Hettche gibt dachte ich direkt: den kauf ich mir. Als ich dann das Buch zum ersten Mal sah, war ich schon vom Einband begeistert. Silber auf Blau. Edel und schön. Und dann noch die Lokomotive Emma, die zu ihren Abenteuern fährt. Ein Buch, dass ich direkt in die Hand nehmen würde, auch wenn es von einem anderen Autor wäre.
Und dann noch die Zeichnungen von Matthias Beckmann und natürlich die zweifarbige Schrift. Die Rahmengeschichte aus der Gegenwart ist in Rot, die Geschichte Hatüs in Blau abgedruckt.
Definitiv kein Buch, das ich als eBook lesen möchte.
Michael Ende
Herzfaden ist nicht nur eine Hommage an die berühmte Marionettenbühne, sondern auch an Michael Ende. Die Gestaltung des Buches mit der zweifarbigen Schrift, erinnerte mich direkt an Die unendliche Geschichte. Auch der grundlegende Aufbau mit den beiden ineinandergreifenden Geschichten erinnert an dieses Buch. Inhalt und mögliche Deutungen von Jim Knopf sind Gegenstand dieses Romans. Und dann kommt Ende auch noch selbst in diesem Roman vor. Eine schöne Szene, in der Hatü ihm eine Marionette vorstellt, quasi um seine Erlaubnis bittet.
Fazit
Herzfaden von Thomas Hettche ist für mich das Lesehighlight dieses Jahres. Die Verkettung der beiden Geschichten, die Verbindung von Realität und Phantasie ist aus meiner Sicht perfekt gelungen.
Das einzige was mir aufstieß, war die wiederholte Nennung einer Smartphone Marke. Was hat sich Hettche bei dieser Produktplatzierung wohl gedacht? Nun ja, ich werde ihn fragen. Karten für eine Lesung hier in Köln habe ich schon.
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Ein wunderbares Buch, ich bin begeistert!