Themen-Lesen: Demenz
Mittwoch, 21. September 2016
Der 21. September ist Welt-Alzheimertag.
Demenz und Alzheimer sind zwei tückische Krankheitsbilder, die die Persönlichkeit und das Leben der Betroffenen und der Angehörigen vollkommen ändern können. Diese Themen werden in vielen Büchern aufgegriffen. Ein paar davon stelle ich heute vor. Ausserdem habe ich ein Interview mit Lars Ruppel geführt, der Fortbildungsangebote für Pflegende die mit Demenzkranken arbeiten, anbietet.
Lars Ruppel ist ein bekannter Poetry-Slammer, den ich auch schon mal Live erleben konnte. In meinem Bericht dazu gibt es noch einige Infos zu ihm.
Interview mit Lars Ruppel
Silvia: Erzähle doch mal etwas über Dein Projekt „Weckworte“.
Lars: Es ist ein Fortbildungsangebot für Menschen, die in der Pflege tätig sind, beruflich oder wegen eines Pflegefalls in der Familie. Ich zeige Ihnen Techniken, mit denen sie Gedichte in Pflegeroutinen integrieren können. Der Fokus liegt auf Gedichten, die die ältere Generation noch nicht kennt, da das Kulturangebot in der Pflege sich allzu häufig auf Wiederholung von Altbekanntem beschränkt. Die Pflege soll kulturell aufgewertet werden. Das Fortbildungsangebot wird von vielen Einrichtungen in Deutschland und der Schweiz gebucht. Ich halte viele Vorträge zu dem Thema und es macht mir viel Spaß.
Silvia: Ich finde es total spannend, dass Du als „Laie“ Schulungen für Pflegekräfte gibst. Gibt es auch Veranstaltungen für pflegende Angehörige?
Lars: Für das was ich mache gibt es sowieso keine Qualifikation, ausser der Fähigkeit zu Empathie und die Begeisterung für Poesie. Ich würde als Laie natürlich keine Pflegetechniken zeigen. Ich zeige nur, wie viel Spaß Poesie macht und, dass man sich diese schwere Arbeit erleichtern kann. Ob in den Fortbildungen Angehörige, PflegeschülerInnen, Betreuungskräfte oder Hedgefondsmanager sitzen ist mir egal.
Silvia: Wie kam Dir die Idee für die Anthologie „Geblitzdingst?“
Lars: Mir ist aufgefallen, dass es einige qualitativ hochwertige Gedichte toller Poetry SlammerInnen gibt. Sie zeichneten sich durch eine besondere Authentizität aus und lagen über dem Niveau viele Gedichte auf Slams, die sich oftmals um Belangloses drehen. Diesen Texten wollte ich in eine Plattform bieten. Pflegende sollen in den Texten die Schönheit Ihrer Arbeit entdecken und auch erkennen, dass andere Menschen da draussen die selben Schrecklichkeiten erleben.
Silvia: Hast Du Angst vor dem Alter und vor dem Vergessen?
Lars: Vergessen ist nichts schlimmes, Vergessen ist lebensnotwendig. Wenn es altersbedingt passiert, dann sollte sich das ganze Umfeld daran gewöhnen, auch dann verliert das Vergessen seinen Schrecken.
Silvia: Hast Du auch noch Pläne im Bereich Poetry Slam?
Lars: Ich würde gerne Spoken Word Gedichte für Kinder schreiben und würde mir ansonsten wünschen, dass alles so bleibt wie es ist.
Silvia: Was sind deine Lieblingskekse? (gerne mit Rezept)
Lars: Die Nussecken meiner Mutter oder die Florentiner meiner Freundin. Beide Rezepte sind streng geheim.
Ich danke Lars Ruppel für dieses Interview. Ich hoffe, falls ich mal dement werde, dass meine Pfleger von ihm geschult wurden.
Bücher zum Weltalzheimer-Tag
Ganz frisch aus dem Satyr-Verlag ist das Buch „Geblitzdingst“. Es trägt den Untertitel: „Slam Poetry über Demenz“, Herausgeber ist, wie oben schon erwähnt, Lars Ruppel.
Geblitzdingst
Das diesjährige Motto des Welt-Alzheimertages ist „Jung und Alt bewegt Demenz“. Dazu passt dieses Buch wunderbar!
Auf gut 100 Seiten wurden sehr unterschiedliche Texte zusammengefasst, die sich mit dem Alter, dem Vergessen und dem Erinnern befassen.
Es gibt typische Poetry Slam-Texte, kurze Prosa und auch ein englisch-sprachiges Gedicht.
Die Autoren
Da ich keinen Autor vergessen möchte, liste ich einfach alle auf
- David Friedrich,
- André Hermann,
- Lars Ruppel
- Nicolas Schmidt
- Leah Diba
- Pierre Lippuner
- Klaus Urban
- Alexander Bach
- Zita Lopram
- Stefan Unser
- Benjamin Baumann
- Artem Zolotarov
- Christine Teichmann
- Nikolai Fritzsche
- Dominik Bartels
- Anna Rau
- Johannes Floehr
- Björn Högsdal
- Julian Heun
- Eva Niedermeier
- Volker Surmann
- Elias Hirschl
- Gary Glazner
Zitate
Um das Buch vorzustellen werde ich aus einigen Texten einzelne Sätze zitieren, um euch so dieses Buch besser beschreiben zu können:
Aus „Vergessen verdienen“ von David Friedrich
Du schämst Dich dafür, mich nicht zu erkennen
Aber Du hast dir das Vergessen verdient
Aus „Erika“ von Zita Lopram
Erika ist gestern im Alter von 92 Jahren verstorben
Diagnose: fortgeschrittene Demenz bei Morbus Alzheimer.
Doch das wusste Erika nicht. Am Ende hatte Erika alles vergessen. Wie man geht, wie man spricht und wann und wo sie war.
Aber sie wusste, dass sie Kuchen mochte und Vogelgesang!
Aus „Süsskirschenohrringe“ von Dominik Bartels
Deine Erinnerung steht mit nackten Füßen im knöcheltiefen Schnee, und alles was du siehst, ist eine riesige, weiße Ebene. Es gibt keinen Punkt, an dem dein Blick hängen bleiben könnte. Es gibt absolut nichts – außer diesem elenden weißen Rauschen in deinem Kopf.
Aus „Als mein Vater den Tod bestahl“ von Björn Högsdal
Mein Großvater hat sich wie eine Schlange gehäutet, und wir trafen nur den zurückgebliebenen Rest an.
Aus „Die alte Frau und das Meer“ von Julian Heun
Denn wenn die Zeit rückwärtslaufen würde, dann hätten alle Angst vor der Kindheit und nicht vor dem Alter. Ich stelle mir das so vor: Langsam verliert man all sein Wissen, die Erfahrungen, und die Haut strafft sich zwar, aber die Beine werden langsam unsicher, und man wird erstaunlich dumm, bis man nicht mal mehr wählen darf. Man langweilt sich schnell und versteht nichts.“
Extras
Am Ende des Buches werden die Autoren noch kurz vorgestellt. Und es sind nicht nur die ganz Jungen, die sich im Bereich Poetry Slam tummeln!
Als besonderes Goodie steht unter einigen Texten ein QR-Code und ein Link, hinter dem sich Audiodateien der Texte verbergen. Gerade Gedichte erschliessen sich so viel besser. Hier ist ein Beispiel. Anna Rau liest: „Die Eule“.
Fazit
Ich habe abwechselnd gelacht und geweint. Einige Texte haben mich unglaublich berührt.
Im Vorwort hat Lars folgendes zum Ziel des Buches geschrieben:
Dieses Buch soll ein Fest für die Sprache in der Pflege sein, soll sagen, was viele Betroffene nicht mehr sagen können, und aufmerksam machen auf die millionenfach erbrachte Meisterleistung, mit Demenz zu leben.
Für mich ist dieses Ziel erfüllt und ich wünsche dem Buch viele, viele Leser.
Geblitzdingst, Herausgeber: Lars Ruppel, Satyr Verlag, ISBN 978-3-944035-75-8, 112 Seiten, [D] 11,90 €
Weiter Bücher zum Thema Demenz
Auf unserem Blog haben wir schon einige Bücher zum Thema besprochen:
Es gibt noch viele weitere Bücher. Mein Favorit ist „Der alte König in seinem Exil“ von Arno Geiger.
Könnt Ihr mir noch gute Romane empfehlen, die das Thema Demenz oder Alzheimer aufgenommen haben?
Ich hoffe ich konnte euch zu diesem Tag einige Anregungen und Denkanstöße geben.
Vergesst euch nicht
Noch ein schönes Buch zu diesem Thema ist „Hier können sie im Kreis gehen“. Das habe ich gerade erst gelesen und rezensiert. Ich fand es wunderbar.
Danke für den Tipp! Du kannst gerne den Link posten
Da findest du meine Rezension
http://karminrot-lesezimmer.blogspot.de/2016/09/hier-konnen-sie-im-kreis-gehen.html
Hallo,
eine wunderbarer Beitrag. Ich habe mich bisher kaum mit Büchern zu dem Thema befasst, aber jetzt werde ich vielleicht mal in eines der Bücher auf deiner Liste reinschauen 🙂
Liebe Grüße,
Lena
Ich freue mich, dass ich dir eine Anregung geben konnte.
Du hast über ein außergewöhnliches Thema einen Blogbeiträge geschrieben, dabei haben recht viele mindestens einen Betroffenen in der Familie. Interessiert dich auch ein Bilderbuch? Ich habe eins gelesen, das ich sehr gelungen finde. Es ist nicht einfach, Kindern verständlich zu vermitteln, warum die Oma zum Beispiel den Kindergeburtstag vergessen hat, obwohl sie doch eingeladen war…
Liebe Grüße, Anna
Danke für den Tipp. Ich kenne tatsächlich eine junge Mutter die vor dem Problem steht den Zustand der Oma der kleinen Tochter zu erklären. Das gebe ich direkt mal weiter.
Danke für den Beitrag. Ich habe aktuell mit Demenz in der Familie zu tun und bin immer wieder fasziniert, wie andere Menschen damit umgehen.
LG
Eva
Auch habe schon persönliche Erfahrungen gemacht. Ich finde den Ansatz von Ruppel klasse.
Hallo,
wow, als ich die Zitate aus dem Buch gelesen habe, habe ich sofort eine Gänsehaut bekommen. Ich weiß selbst, wie es ist, wenn Verwandte Demenz haben und kann das dann auch nachvollziehen.
Das Buch kannte ich noch gar nicht, aber es steht jetzt auch auf meiner Wunschliste.
Liebe Grüße
Andrea 🙂