Zwei Blogger ein Buch: Loyalitäten
Donnerstag, 20. September 2018
Delphine de Vigans neuer Roman
Théo ist ein Jugendlicher. Er geht in die Schule, hat wenig Freunde und er hat zwei Zuhause. Denn seine Eltern sind geschieden. Jede Woche packt er alles was er braucht und fährt zum anderen Elternteil.
„Das ist es, was er jeden Freitag zur etwa gleichen Uhrzeit leisten muss: diesen Umzug von einer Welt in die andere, ohne Brücke, ohne Fährmann. Zwei nichtleere Mengen ohne jede Schnittmenge.“
Seine Eltern kommunizieren nicht miteinander. Er liebt beide und versucht es beiden Recht zu machen. Er bleibt loyal zu beiden und das zerreißt ihn.
Wir haben das Buch beide gelesen und teilen mit euch unsere Eindrücke.
Silvia: Ich bin schon ein Fan von Delphine de Vigan, doch jedes neue Buch von ihr haut mich erneut wieder um. War „Nach einer wahren Geschichte“ eher ein Verwirrspiel, das man als fiktiv ansehen kann, ist Loyalitäten erschreckend real. Ich konnte die Ich-Bezogenheit und die Ignoranz der Eltern gegenüber ihrem Kind einfach nicht fassen. Wie erging es dir mit dem Buch?
Astrid: Ich bin ja auch ein großer Fan der Autorin. Immer wieder überrascht sie mich mit ihren Büchern. Von diesem Buch hatte ich erstmal eine Leseprobe gelesen und noch nie hat mich eine Leseprobe so gefangen genommen.
Silvia: Ich kann wirklich verstehen, wenn Beziehungen auseinandergehen. Und ständiger Streit in einem Haushalt ist sicher auch nicht gut für die Kinder. Doch bei der Trennung muss das Wohl des Kindes über das Wohl der Eltern gehen. Ich kenne Bespiele für Trennungen die wunderbar geklappt haben, für die Kinder war es zwar schwer, aber die Elternteile sind immer noch gemeinsam Eltern. Und keine feindlichen Planeten. Wie nimmst du das in deiner Bekanntschaft wahr?
Astrid: Ich kenne leider auch einige Beispiele, wo es nicht so optimal geklappt hat. Wo die Frauen sehr verletzt sind und die Kommunikation mit dem Mann einfach nicht mehr klappen wollte.
Silvia: Sehr eindringlich empfand ich die beiden Beschreibungen, wie Théo am Anfang der Woche in die jeweiligen Haushalte einzieht. Er musste in beiden die andere Identität buchstäblich ablegen. Ich bekomme noch Gänsehaut, wenn ich jetzt daran denke. Welche Szene aus dem Buch geht dir nicht aus dem Kopf?
Astrid: Théo muss sich immer duschen und frische Klamotten anziehen, wenn er vom Vater kommt. Die Mutter erträgt ihn sonst nicht. Wie furchtbar ist das denn?
Silvia: Ich habe auch so meine Probleme, und lasse das sicher auch ab und zu an meinen Kindern aus. Das bleibt nicht aus, wenn man zusammenlebt. Doch wie kann beispielsweise Théos Mutter so gar nicht reflektieren, was sie ihrem Sohn antut? Wie kann sie seinen Schmerz so vollkommen ignorieren?
„Und jedes Mal war ihm, als würde das Leid seiner Mutter in seinen eigenen Körper aufnehmen. Manchmal war es ein elektrischer Schlag, manchmal ein Schnitt oder ein Faustschlag, aber immer sein Körper, in dem sich der Schmerz fortsetzte, als müsse Théo seinen Teil tragen.“
Kinder sind stark und flexibel. Doch hier wundert es mich, dass nicht schon viel früher ein Zusammenbruch kam. Und er hat noch nicht mal richtige Freunde, bei denen er mal sein Herz ausschütten konnte. Keine Verwandten, keine andere wirkliche Bezugsperson. Und dann diese wahnsinnige Loyalität. Théo ist so ein toller Junge. Ich könnte gerade um ihn weinen.
Astrid: Mich hat dieses Buch auch sehr mitgenommen. Es war alles so real. Théo ist so ein liebenswerter Junge, dem die Probleme über den Kopf wachsen. Zum Glück hat er seine Lehrerin, die gute Antennen für ihre Schüler hat und nicht lockerlässt. Das hat mich sehr ins Grübeln gebracht. In meinen Computerkursen in der Schule habe ich auch häufig Kinder, denen man anmerkt, dass sie Probleme haben. Aber wann ist der Zeitpunkt, an dem man eingreifen muss?
Silvia: Das ist sehr schwierig zu beantworten. Ob ich auch solche Anzeichen bei anderen Menschen übersehe? Wie sieht es wirklich in Familien von Freunden und Bekannten aus? Müsste ich genauer fragen? Mich einmischen? Wie würde ich reagieren, wenn das jemand bei uns täte?
Astrid: Es läßt sich niemand gerne reinreden in sein Leben. Ich fürchte, du wärst genauso machtlos wie die Personen in dem Buch.
Silvia: Noch ein Zitat, noch eine Szene, die mir sehr nahe ging. Cécile, die Mutter von Théos Freund, sieht im Fernsehen Bilder einer Ölpest:
„Ich betrachte diese ölverschmierten Vögel und dachte sofort an uns, an uns alle, diese Bilder zeigten uns besser als jedes Familienfoto. Das waren wir, das waren unsere schwarzen, mit Öl überzogenen Körper, an jeder Bewegung gehindert, betäubt und vergiftet.“
Auch die Familie von Théos Freund hat Probleme, allerdings sind sie nicht ganz so hilflos wie Théos Familie. Die findet ohne Hilfe einfach nicht heraus. Doch wer soll diese Hilfe geben?
Astrid: Gute Frage! Théo ruft ja indirekt nach Hilfe. Aber bei seinen Eltern sehe ich diesen Hilferuf nicht. Und ich habe gelernt, dass man Hilfe auch annehmen können muss. Und dass ist nicht so einfach wie man denkt.
Fazit:
„Loyalitäten“ von Delphine de Vigan erzählt von dem 12jährigen Théo, der das Leben mit seinen geschiedenen Eltern kaum noch aushält und Wege aus dieser ausweglosen Situation sucht. Aber sind es die richtigen? Ein sehr aufwühlendes Buch, das einen nicht mehr loslässt.
Ganz große Leseempfehlung von uns.