Sabine Gelsing: Entzwei
Sonntag, 4. Juni 2023
2 Blogger, 1 Buch
Zwei Schwestern, Zwillinge, werden getrennt. Ein Ganzes wird geteilt, wie ein halbierter Apfel. Entzwei. Sie erfahren voneinander erst, als schon beide im Rentenalter sind. Kann man dann noch eine Beziehung aufbauen?
Wir haben diesen Debütroman von Sabine Gelsing beide gelesen und wollen ihn hier auch gemeinsam besprechen. Im Roman wird nach und nach enthüllt, wie es zu der Trennung kam und wie sie sich wiedergefunden haben.
Wir haben Sabine Gelsing bei der diesjährigen Leipziger Buchmesse bei ihrer Lesung von „Entzwei“ getroffen, daher stammen auch die Fotos, die wir hier zeigen.
Warum lesen wir dieses Buch?
Silvia: Ich habe ja etwas gezögert dieses Buch zu lesen. Ich finde es immer schwer, wenn ich die Autorin kenne. Sabine habe ich als Mitglied der Jury für den Bloggerpreis für das beste Debüt vom Blog Das Debüt kennengelernt. Sabine erzählte dabei immer wieder von ihrer Arbeit an diesem Buch. Inhaltlich hat sie aber nichts verraten. Hättest du in der Buchhandlung zu diesem Roman gegriffen?
Astrid: Ja, auf jeden Fall! Es gibt ja nicht mehr so häufig brauchbare Buchbeschreibungen als Klappentexte. Hier hat mich die Beschreibung sofort in den Bann gezogen.
Silvia: Das Thema Zwillinge, die bei der Geburt getrennt wurden, gibt es ja auch in anderen Romanen. Neu war für mich, dass das eine Kind durch die Großmutter „abgekauft“ wurde, während das andere bei der Mutter bleiben „musste“ und später im Kinderheim landete. Kennst du dieses Thema auch aus anderen Büchern?
Astrid: Nee, da fällt mir jetzt spontan nichts ein. Aber ich lese ja auch aktuell nicht so wahnsinnig viel. Spannend war für mich auch das Thema Kinderheim. Da wollte ich schon immer mal mehr drüber lesen.
Kinderheime
Silvia: Da sind ja auch die Parallelen zu Sabines Familiengeschichte. Auch ihre Mutter lebte in den 50iger Jahren in einem Kinderheim, ihre Schwester nicht. Unvorstellbar ein Kind abzugeben. Für die Kinder eine Katastrophe, aber für Eltern sicher auch nicht einfach.
Astrid: Ich muss gestehen, dass ich mir die Jahre damals nicht so recht vor Augen geführt habe, als ich dachte: „Ein Kind kriegt man doch immer irgendwie groß“. Das mag so auch in unserer jetzigen Zeit stimmen, aber damals war tatsächlich alles anders. Ein uneheliches Kind war ja schon eine Katastrophe, aber gleich zwei. Damals undenkbar. Und das Thema Kinderheim gar nicht so selten. Wenn man Probleme hatte, brachten viele ihre Kinder eben ins Kinderheim, um es dann aber hoffentlich wieder zu bekommen.
Silvia: Die Beschreibungen aus dem Kinderheim haben mich sehr erschüttert. Auch dieses Thema wird in anderen Büchern verarbeitet. So habe ich letztes Jahr zum Beispiel Findelmädchen von Lilly Bernstein (Synonym von Lioba Werrelmann). Dort ging es um eine riesige Anstalt mitten in Köln. Auch im Roman Der Inselmann war das ein Thema, Zu beiden beschriebenen Heimen gibt es große Parallelen zu Entzwei. Ich glaube, dass es da viele Menschen in Deutschland gibt, die deshalb viel verarbeiten müssen. Kennst du zufällig jemanden?
Astrid: Erst kürzlich erfuhr ich die Geschichte eines Bekannten. Er hatte zum Glück im Heim jemanden, der ihn förderte, so dass er einen guten Schulabschluss machen konnte. Und er ist auch ein glücklicher Familienmensch geworden. Aber ich fürchte, dass das eher selten der Fall ist.
Silvia: Ich glaube, ich keinen niemanden persönlich, das das durchmachen musste. Die Kindheit von Alma im Heim muss die Hölle gewesen sein. Aber auch Helene war nicht glücklich und litt sehr unter der Großmutter. Für beide wäre es einfacher gewesen, wenn sie zusammen aufgewachsen wären.
Zeitebenen
Silvia: Das Buch spielt ja in zwei Zeitebenen. Heute, wenn sich die zwei Schwestern kennenlernen und kurz nach dem Krieg, als sich ihre Eltern trafen. Franz war sehr verwurzelt in seine Heimat, hatte aber auch Visionen und litt unter dem Regiment seiner Mutter. Und Elisabeth, die große Träume hatte. Sie wollte frei sein, die Welt kennenlernen und Fotografieren. Ich fand diese Frau ziemlich spannend. Wie wirkte sie auf dich?
Astrid: Auf jeden Fall ungewöhnlich für die Zeit! So unabhängige Frauen gab es vermutlich nicht häufig. Mir gefiel es, dass sie nicht sofort heiraten wollte, als sie merkte, dass sie schwanger war. Und sie hatte auch definitiv keine romantischen Vorstellungen von einer Ehe. Und was eine Schwiegermutter für eine Bedeutung im eigenen Zuhause hatte, war ihr sehr wohl klar.
Silvia: Meine Schwiegermutter war immer nett zu mir, aber in einem Haus hätte ich mit ihr auf keinen Fall wohnen wollen.
Zwillinge
Silvia: In meiner Grundschulklasse gab es drei Zwillingspärchen. Eines davon waren meine direkten Nachbarn, wir verbrachten viel Zeit miteinander. Ich war immer neidisch, weil sie nie alleine sein mussten. Wärst du auch gerne ein Zwilling gewesen?
Astrid: Nein! Ich hatte in meiner Nachbarschaft Zwillinge. Nie habe ich sie auseinanderhalten können. Man hört häufig witzige Anekdoten über Zwillinge, aber ob so ein Leben einfacher wäre – keine Ahnung. Vor den Kindern hatte ich mir aus mir heute unerfindlichen Gründen gewünscht, Zwillinge zu bekommen. Zum Glück wurde das nichts – hätte mich sicher auch total überfordert.
Silvia: Häufig wird ja von der mystischen Verbindung zwischen Zwillingen erzählt. Das fehlt hier ganz. Das fand ich eigentlich ziemlich gut, weil ich einfach nicht glaube, dass einem ein Mensch fehlt, von dessen Existenz man gar nichts wusste. Wie siehst du das?
Astrid: Mir hätte es gefallen! Weil ich dran glaube! Manchmal lese ich von Familienaufstellungen. Da fällt plötzlich nach Jahren auf, dass ein Familienmitglied fehlt. In meiner Arbeit als Sternenkindfotografin bemühe ich mich immer sehr, dass es von beiden Zwillingen gemeinsame Fotos gibt, für den leider nicht so seltenen Fall, dass einer von den beiden vor, bei oder kurz nach der Geburt stirbt. So ein gemeinsames Bild spielt in dem Buch ja auch eine entscheiden Rolle.
Fazit
Entzwei von Sabine Gelsing ist ein interessantes und auch spannendes Debüt. Wir haben es sehr gerne gelesen und es hat uns leider auch die Erziehungsmethoden in Kinderheimen der 50er Jahre näher gebracht. Man möchte glauben, dass es nur der Fantasie der Autorin entsprang, aber wir fürchten, dass sie sich dabei an die Fakten gehalten hat. Wir wünschen Sabine viel Glück mit ihrem Buch.