Simona Baldelli: Die Rebellion der Alfonsina Strada
Montag, 20. September 2021
Was Frauen alles können
Alfonsina hat einen Traum: Radrennen fahren. Heute kein Problem, aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr wohl. Der Roman ist eine Hommage an die mutige, starke Frau, die ihr ganzes Leben um ihre Rechte kämpfte. Erfolgreich. Sie war die einzige Frau, die jemals am Giro d’Italia teilnahm.
Alfonsina
Alfonsa Maria Rosa Morini wurde 1891 in sehr ärmliche Verhältnisse hinein geboren. Der Vater ist ein armer Tagelöhner, die nie auf einen grünen Zweig kommen sollte, die Mutter gebiert jedes zweite Jahr ein Kind, in den anderen Jahren nimmt sie eine Waise als Amme auf. In der Hütte in der sie wohnen gibt es drei Betten: eines für die Eltern, eines für die Jungs und eines für die Mädchen. Die Kinder liegen Fuß an Kopf um etwas mehr Platz für die Schultern zu haben. Essen ist nie genug da. Virginia, die Mutter, versucht aus sehr wenig Irgendetwas zu kochen. Doch so ergeht es vielen zu dieser Zeit. Einmal arm, ist es kaum möglich daran etwas zu ändern. Es ist auch ein rein patriarchalisches Leben. Der Vater bestimmt, die Familie spurt.
Das erste Fahrrad
Eines Tages bekommt der Vater ein Fahrrad geschenkt. Er hofft damit besser bezahlte Jobs in etwas weiter enttfernten Orten zu bekommen Vielleicht in der nahe gelegenen Stadt Bologna? Die Kinder dürfen das Rad nicht berühren. Zu wertvoll. Doch eines Nachts überkommt es Alfonsina: sie steht auf, schnappt sich das Rad und bringt sich das Fahren selbst bei. Sie bekommt zwar Ärger, aber das ist es ihr wert. Bald findet sie als Teenager eine feste Stelle in Bologna und fährt jeden Tag mit dem Rad zur Arbeit. Die Mittagspause verbringt sie auf der nahegelegenen Trainingsstrecke für Rennrad-Fahrer. Sie wird dort meist ausgelacht, kann sie aber stilistisch einiges abgucken, ein paar der Männer helfen ihr auch. Sie ist Feuer und Flamme! Blad fährt sie die ersten kleinen Rennen mit. Dabei kommt ihr zugute, dass sie meist wegen ihrem androgynen Körperbau und den kurzen Haaren für einen Jungen gehalten wird.
Frauen fahren kein Rad
Denn wird sie als Mädchen erkannt, wird sie verlacht und beschimpft. Frauen können zwar den ganzen Tag im Haushalt schuften, aber Radfahren sei zu anstrengend für sie. Außerdem macht man das als Frau einfach nicht. Basta.
Das muss sich Alfonsina ihr ganzes Leben lang anhören. Die Eltern, der Abreitgeber, die Kolleginnen, sogar der Pfarrer: alle wettern dagegen und wollen es ihr verbieten. Selbst als sie anfängt auch mal eines der kleinen Rennen zu gewinnen. Niemand gönnt ihr den Erfolg, Niemand bestätigt sie in ihrem offensichtlichen Talent.
Bis sie ihren Mann kennenlernt. Luigi Strada bewundert sie. Er macht ihr immer Mut und wünscht sich, dass sie nie aufgibt.
Keine Anerkennung
Aber Luigi ist fast der Einzige der Ihr etwas Anerkennung entgegenbringt. In den ärmlichen Verhältnissen, in denen Alfonsina aufwuchs, gab es keine Liebe, keine Zärtlichkeit, keine Bestärkung. Alle waren nur mit dem eigenen Überleben beschäftigt. Selbst als sie Geld damit verdient, sagt niemand mal „Ich bin stolz auf dich“.
Ich frage mich: wo hat diese Frau mit dem Hintergrund den Mut und die Kraft aufgebracht sich immer gegen alle anderen zu stellen? Welche mentale Kraft musste sie in sich tragen! Von der körperlichen Leidensfähigkeit mal ganz zu schweigen.
Strapazen
So fängt das Buch an:
Die Strapazen. Die Strapazen.
Niemand denkt an die Strapazen. Alle haben nur Augen für die Medaillen und Trophäen oder spekulieren über das gewonnene Preisgeld, das immer zu wenig, immer zu schnell weg ist. Man redet über den Applaus, über Schlagzeilen in den Zeitungen, doch die Strapazen werden vergessen. Und die Einsamkeit.
Das sagt schon alles über Alfonsina Strada aus: sie kann sich bis zum Ende quälen und bleibt immer allein.
Ich fahre auch Rennrad und empfinde das als anstrengend, wenn ich mal längere Strecken oder steilere Anstiege fahre. Doch das ist kein Vergleich zu früher.
Die Räder sind heute um einiges leichter, die Technik ist ausgereifter. Bessere Fahreigenschaften, gute Bremsen, zuverlässiges Schaltwerk. Von der funktionellen Kleidung mal ganz abgesehen.
Damals mussten die Fahrer bei einem Platten den Mantel selbst mit Nähzeug flicken, alles musste mitgeschleppt werden. Proviant für Strecken um die 250 km. Überhaupt, die Ernährung: wie Alfonsina das geschafft, so unter- und mangelernährt wie sie aufgewachsen ist. Es gab Fahrer, die nur wegen der mitgegebenen Verpflegungsbeutel auf den langen Rundfahrten mitgefahren sind.
Heute hat der Profifahrer seinen Funkunterstützung, seine Wasserträger, Begleitfahrzeuge mit Ersatzrädern, Physiotherapeuten, Ernährungsberater, Ärzte, Mentaltrainer. Die Straßen werden für das Rennen gesperrt und Teile oft neu asphaltiert.
Straßen ist auch ein gutes Thema: das waren damals Schotterpisten, ohne Asphalt. Wenn es regnete entstanden schon mal Matschlöcher, in denen die Räder versanken. Und sie hatten noch nicht mal einen Helm.
Nochmal: wo nahm diese Frau die Kraft, den Willen und den Mut dafür her?
Perspektiven
Der Roman beschreibt wesentliche Teile und Ereignisse aus Alfonsinas Leben. Dabei bedient sich die Autorin verschiedenen Perspektiven. Einmal ist da die 70jährige Alfonsina im Jahre 1959, die ein Radrennen ansehen möchte und immer wieder in Erinnerungen schwelgt. Das wechselt mit der Alfonsina in den verschiedenen Situationen und Zeiten.
Und dann ist da noch Antonia, die im Juli 2017 an der Einweihung eines Straßenschildes mit Alfonsinas Namen dabei sein soll und eine Rede auf die Frau, die sie persönlich kannte halten soll.
So wird der Roman nicht kontinuierlich erzählt, sondern springt in den verschiedenen Zeiten hin und her. So gibt es schon mal Vorgriffe und Rückschauen. Manchmal wusste ich nicht mehr recht was schon war und was noch kommt.
Giro d’Italia
Es gibt drei große Rundfahrten im Radsportbereich: Tour de France, die Vuelta in Spanien und den Giro d’Italia, der seit 1909 ausgetragen wird. Alfonsina ist die einzige Frau, die jemals an einem dieser drei wichtigsten Etappenrennen teilgenommen hat. Ihre Giroteilnahme nimmt neben ihrer Jugend den größten Teil des Buches ein.
Der Führende im Giro trägt übrigens ein rosa Trikot. Das wird hoffentlich der Grund für die rosafarbene Ausstattung des Buches sein, denn Alfonsina trug meistens schwarz.
Damals, 1924, sahen diese Rundfahrten noch anders aus. Insgesamt waren 3600 km zu absolvieren, in zwölf Etappen. Es wurde immer einen Tag gefahren, danach gab es einen Ruhetag. Wer an einem Tag mehr als drei Stunden Rückstand hatte, viel aus der Wertung raus.
In diesem Jahr setzten die größten Radsportikonen bei dem Rennen aus. So fehle ein Publikumsmagnet. Das war Alfonsinas Chance. Die Gazetta dello Sport, Organisator des Rennens, erhoffte sich von ihrer Teilnahme viel Medienrummel und Publikumsinteresse. Doch ihr Name wurde auf der Teilnehmerliste sicherheitshalber am Tag der ersten Etappe bekanntgegeben.
Verantwortung
Alfonsina ist am Boden, als sie sich für die Teilnahme entscheidet. Eigentlich hat sie nichts mehr zu verlieren. Doch schafft sie es? Ist sie dem körperlich gewachsen? Und schafft sie es die zu erwartenden Beleidigungen wegzustecken?
Ein paar Beispiele
Traurige Träumerin, eine Verrückte. Niete. Flittchen. Nutte.
Wenn sie scheitert, werden alle sagen: haben wir doch schon immer gesagt: eine Frau schafft das nicht. Sie ist zu schwach.
Dadurch nimmt sie die Verantwortung auf ihre schmalen Schultern, der Welt zu zeigen, dass auch Frauen viel schaffen können.
Spoiler: Sie schafft es, hat aber keine Chance auf eine gute Platzierung. Sie wird aber auch nicht letzte, von den vielen die ausgestiegen sind, während der Rundfahrt, ganz zu schweigen.
Betroffen gemacht hat mich vor allem, dass auch Frauen Alfonsina beschimpften und versuchten sie vom Radfahren abzubringen.
Geister
Alfonsina ist häufig einsam, aber nie wirklich allein.
Denn sie hat stets Geister als Begleitung dabei. Die Geschwister und Pflegekinder, die als Kind gestorben sind, sieht sie häufig am Fußende des Bettes. Meist schauen sie anklagend. Manchmal eben sie ihr Mut, manchmal wird sie durch ihr erscheinen noch verzweifelter. Auch andere Geister verstorbener kommen im Laufe der Zeit hinzu.
Dieser Aspekt des Romans hat mich ein wenig verwundert. Wie kam die Autorin darauf? Ob es Quellen gibt die darauf hinweisen? Wenn nicht, was bezweckt sie damit? Es hat mich nicht gestört, aber seltsam fand ich diesen Einfall schon.
Mein Rennrad und ich
Seit ein paar Jahren fahre ich auch wieder aktiv Rennrad. Das Buch über Alfonsina Strada habe ich auch standesgemäß während eines Radurlaubs in Italien gelesen. Wir waren in der Nähe vom Gardasee und haben dort einige schöne Touren absolviert. Auch ich empfinde Radfahren als anstrengend (Die Strapazen!). Vor vielen Touren frage ich mich “schaffe ich das?“ und bin dann glücklich, wenn ich es gepackt habe. Diese Strecke, diesen Berg, dieses Tempo. Doch soviel Mut, Ausdauer, Kraft und Standing wie Alfonsina habe ich nicht. Bei weitem nicht.
Trotzdem bin ich für meine Verhältnisse sehr fit zurzeit. Mehr als 4000 km bin ich dieses Jahr schon gefahren, die längste Strecke war bisher 200 km am Stück. Die meiste Zeit davon am Hinterrad meines Mannes, so ist es etwas einfacher. Wer sich für unsere Touren interessiert kann uns auf Instagram unter @Rennradliebe_Koeln folgen.
Das Radfahren hat mich auch psychisch gut durch die Lockdowns gebracht und bei einem Aktivurlaub kann ich viel besser abschalten und mich mental sehr gut erholen. Und die Strapazen einer harten Tour sind nach einem Ruhetag auch wieder vergessen.
Wenn ich jetzt mal an meine Grenzen gehen muss, denke ich immer: „Alfonsina hat auch nie aufgegeben, ich schaffe das!“
Fazit
Die Rebellion der Alfonsina Strada ist der Debütroman von Simona Baldelli. Die Übersetzung aus dem italienischen Stammt von Karin Diemerling. Das Auf und ab im Leben dieser mutigen Frau, die stets mit ihrem Sport auch für die Gleichberechtigung von Frauen eingetreten ist, hat mich fasziniert. Einige Passagen hätte ich gerne noch ausführlicher gehabt. Doch ich bin ja auch ein kleiner Rad-Nerd. So ist das Buch durchaus auch für Menschen geeignet, die sich nicht für den Rennradsport interessieren, aber dem Leben einer außergewöhnlichen Frau nahekommen wollen.
Weitere Rezensionen
Auch andere Buchblogger*innen haben diesen Roman besprochen.
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Jana Jordan bei Schreiblust – Leselust
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Folgende Bücher beschäftigen sich ebenfalls mit realen starken Frauen:
„Die Ballade vom Wunderkind Carson McCullers“ von B.Landes
Lady Churchill von Marie Benedict
Die Dirigentin von Maria Peters
Die Inselpastorin von Pamela Hansen
Yusra Mardini: Butterfly
Auch ich bin viel mit dem Rad unterwegs. Nicht so wie du, liebe Silvia. Doch auch für mich ist das anstrengende Fahren Entspannung.
Alfosina kannte ich nicht, aber ein ähnliches Buch zum Thema Frauen und Radfahren habe ich auch schon gelesen. Abwertungen, Beschimpfungen musste die Protagonistin erdulden. Frauen könnten keine Kinder bekommen, wenn sie Fahrrad fahren… zum Glück ist all dieser Mist überholt.
Ich verfolge deine Touren mit Hochachtung.
Ob mir das Buch allerdings gefallen könnte bezweifle ich. Mir scheint es ist zu konfus,…
Liebe Grüße
Andrea
Hallo Andrea,
radfahrenden Männern sagt man übrigens auch nach keine Kinder zeugen zu können. Nun ja, wir haben zwei gesunde Töchter!
Radel schön weiter,
liebe Grüße
Silvia