Von Canal – Deutschmann: I get a bird – Rezension
Sonntag, 29. August 2021
Briefroman von Anne von Canal und Heikko Deutschmann
Eine Frau lässt ihren Notizkalender in einer Telefonzelle liegen. Ein Mann findet diese Agenda und schickt sie ihr. Allerdings erst drei Jahre später. Dem Päckchen legt er einen Brief bei. So der Romananfang. Es entspinnt sich ein Briefwechsel zwischen zwei Menschen, die sich nicht kennen. Sie wohnen 1000 km auseinander. Haben sie überhaupt etwas gemeinsam?
Jana
Sie ist noch nicht alt, aber in einer schwierigen Lebensphase. Eigentlich Zukunftsforscherin, muss sie sich den Lebensunterhalt mit Putzjobs und Kurierfahrten sichern. Projekte scheitern immer an den Finanzen. Im Roman erzählt sie von Freunden, Beziehungen und auch viel von ihrer Familie, insbesondere von den Eltern. Anfangs wirkt sie auf mich sehr reserviert. Sie öffnet sich langsamer als Johan. Doch er wird im Laufe des Romans ihr engster Vertrauter, sie möchte ihn zu ihrem „Informationshüter“ machen:
Warum?
Weil Sie jemand sind, der mir nahe genug ist und doch fern. Jemand, der mit vertraut ist und doch fremd.
Das ist vielleicht auch der Grundsatz einer solchen Brieffreundschaft. Vielleicht funktioniert dieser Briefwechsel wegen dieser einzigartigen Beziehungsart.
Johan
Johan war lange Busfahrer. Vorher hat er ein Philosophiestudium abgebrochen, was vielleicht auch seinen nicht immer einfachen Schreibstil erklärt.
Nach einem traumatischen Ereignis ist er suizidgefährdet, in einer psychiatrischen Anstalt. Eigentlich total vereinsamt, findet Johan doch Menschen, die ihn unterstützen. Wenn er sie denn lässt.
Er hat eine Tochter, doch leider keinen Kontakt zu ihr. Angst ist sein großes, persönliches Thema:
Angst ist auch so ein Möglichkeitsmeer. Und ich habe viele Ängste.
Jeder habe ich einen Namen gegeben. Feierlich und ernsthaft. Mit Taufe und allem Drum und Dran. Wir sitzen gemeinsam am Tisch. Ich koche für sie. Ich kleide sie und höre mir ihre Sorgen an. Die Sorgen meiner Ängste.
Briefroman
Ist das nicht etwas antiquiert? Wer schreibt heute noch Briefe? Früher war ein Briefroman eine gängige Buchform. Auch heute gibt es immer noch Ausgaben historischer Briefe von/an berühmten Persönlichkeiten. Doch passt das auch ins 21. Jahrhundert?
Wenn ich in meine Kindheit/Jugend zurückblicke waren Brieffreundschaften etwas Alltägliches. Vor allem etwas, was meine Eltern gefördert haben, denn meine Handschrift war nicht schön, meine Rechtschreibung katastrophal. So sollte ich beides üben. Ich hatte Briefreundinnen aus Urlauben und sogar in anderen Ländern, vom Schüleraustausch her. In meiner Generation schrieb man also durchaus noch Briefe und die beiden Autoren sind vom Alter her nicht so weit entfernt. Vielleicht hatten sie auch solche Brieffreunde?
Von Canal und Deutschmann haben sich einen Aufhänger ausgedacht, wie es in heutiger Zeit überhaupt zu einem physischen Briefwechsel kam. Und irgendwie ist das eine schöne Idee, denn durch die Zeit Verzögerungen erhält der Roman eine Eigendynamik. Zum Beispiel war Jana mal ein paar Wochen im Ausland und konnte seine Briefe nicht lesen. Er schrieb ins Leere, wusste erst nicht warum sie nicht antwortet. Manchmal gab es aber auch aus anderen Gründen Pausen.
Während man sich bei Mails ärgert, wenn sie binnen 24 Stunden nicht beantwortet wurden, muss man Geduld beim Briefwechsel schon einplanen. Ich denke auch, dass Briefeschreiber sorgfältiger formulieren. Würde ich zumindest. Glaube ich.
Entstehung
Anne von Canal saß wohl mit Heikko Deutschmann irgendwo beim Frühstück und erwähnte, dass sie gerne mal einen Briefroman machen möchte. Aber nicht alleine…
Sie sprachen nur ab, dass der eine Protagonist einen realen Gegenstand an den anderen schicken würde. Dem Paket legt er einen Brief bei. So lässt es sich erklären, wie es in heutiger Zeit überhaupt zu einem Briefwechsel kam.
Dem ersten Brief folgten zwei Jahre ohne Absprache über den Plot. Es wurden nur Briefe hin und hergeschickt. In einer Grußbotschaft auf Youtube erzählen beide vom Buch und seinem Entstehen.
Ausführung
Die Idee finde ich spannend. Die Konstruktion und die erfundene Herausgeberin, die ein Vorwort schreibt ist genial. Schön, wie sich das alles fügt.
Allerdings hat mich die Ausführung selbst nicht packen können.
Vor allem die Story von Johan, auch sein Stil, hat mich ehrlich gesagt etwas genervt. Da hatte ich schon mehr Bezug zu Jana.
Was mir allerdings wieder gut gefiel, waren die Anmerkungen der „Herausgeberin“ zu bestimmten Artefakten, z.B. ein Zeitungsauschnitt (den ich in meinem eBook-Reader leider nicht komplett sehen konnte), Zettel, manchmal etwas mit der Hand geschrieben, dann wieder getippt. Sehr gut gefielen mir auch die eingefügten Gedichte von Tranströmer.
Titel
Johan hat eine Stofftasche, auf der „I get a bird“ aufgedruckt ist. Dieser Ausspruch wird auch ein paarmal im Buch benutzt. So kommt der Roman zu seinem Titel.
Aber was bedeutet das? Im Büro bekomme ich Englischunterricht, meinen native-Speaker- Englischlehrer habe ich gefragt: er kannte diesen Ausdruck nicht. Er kannte nur „to get a bird“, das ist eine Art zischende Unmutsäußerung im englischen Parlament.
Bei der Suche im Netz stieß ich auf eine Tasse mit diesem Aufdruck. Hier in Deutschland erhältlich. Sollte es so einfach sein? Eine denglische Umformulierung von „Du hast einen Vogel“ zu „Ich habe einen Vogel“? Eine Art vorausgenommene Bestätigung „Ich bin verrückt“?
Würde passen. Da habe ich wohl zu kompliziert gedacht…
I think: „I got a bird too“
Weitere Briefromane
Augustus von John Willams und Eine Liebe über dem Meer von Jessica Brockmole sind klassische Briefromane.
Doch eine Suche in usnerem Archiv ergab viele Romane, in denen Briefe eine sehr große Rolle spielen:
Eine Liebe in Gedanken von Kristine Bilkau ist kein eigentlicher Briefroman, aber ein Buch, in dem Briefe eine tragende Rolle spielen.
Auch Unter der Drachenwand von Arno Geiger ist ein Roman, der zum Teil aus Briefen besteht.
Im Roman Wer ist Mr. Satoshi von Jonathan Lee geht es auch um ein Päckchen und Briefe.
Mit Lieber Mr. Salinger beginnen viele Briefe aus der Fanpost, in der sich die Heldin des Omans von Johanna Rakoff kümmern muss.
Einen Briefwechsel mit ungeahnten Folgen findet man in Adressat unbekannt von Kressmann Taylor.
Fazit
Der gemeinsam von Anne von Canal und Heikko Deutschmann verfasste Briefroman I get a bird hat eine tolle Entstehungsgeschichte und eine geniale Konstruktion. In der Ausführung manchmal etwas philosophisch für meinen Geschmack. Doch spüre ich auch den Spaß, den die beiden Autoren bei der Entwicklung der Geschichten ihres jeweiligen Alter Ego hatten. Ich empfinde die Form „Briefroman“ zeitgemäß, weil sie nach meinem Empfinden etwas Tempo aus dieser zu sehr beschleunigten Welt nimmt.