Slata Roschal: 153 Formen des Nichtseins
Mittwoch, 15. Februar 2023
Debütroman
Wenn ein Debütroman auf der Nominierungsliste des Deutschen Buchpreises erscheint handelt es sich um ein besonderes Buch. So ist das auch bei 153 Formen des Nichtseins. Dann stammt dieses Buch auch noch aus dem kleinen unabhängigen homunculus Verlag, was meine Freude bei der ersten Durchsicht der Longlist für 2022 noch vergrößerte.
Form und Stil
Slata Roschal hat bereits zwei Lyrikbände veröffentlicht. So ist die gewählte Sprache oft poetisch. Auf alle Fälle gibt es viele schöne Sätze und Formulierungen zu entdecken. Hier zwei Beispiele:
…vor allem schämte ich mich dafür, dass ich den Vorwürfen, die gegen mich erhoben wurden, nicht einmal entsprechen konnte“,
oder
…ich wünschte, mit meinen Wünschen Berge umstellen zu können.“
Bei diesem Buch habe ich mich gefragt, ob es sich überhaupt um einen Roman handelt. Denn die Form ist recht ungewöhnlich.
Das Buch besteht aus 153 meist recht kurzen Kapiteln. Es sind Abschnitte, die nicht unbedingt in direktem Zusammenhang zueinanderstehen. Manchmal sind es eher Fragmente, wie Bruchstücke aus einem Leben.
So ergibt sich ein Bild der Ich-Erzählerin wie eine Collage aus vielen Fotos. Manchmal ist es eine eMail, dann ein Notizzettel , eine Anzeige im Internet, eine Webadresse oder auch ein Bibelzitat. Darauf folgen wieder Prosastücke über mehrere Seiten.
Doch in der Gesamtheit sind viele Zusammenhänge und Querverweise zu erkennen. So dass sich ein sehr vielschichtiges Bild der Protagonistin ergibt. Sicher sind auch viele Bezüge zur Autorin selbst zu erkennen.
Trotzdem hat das Buch keine eigentliche Handlung, es besteht eher aus vielfältigen Beschreibungen einer Existenz, eines Lebens, einer Frau, die selbst noch nach ihrem Platz, ihrer Identität sucht.
Identität
Für mich ist das Buch eine Suche nach der eigenen Identität. Ein immer aktuelles Thema in der Literatur.
Diese innere Suche ist für die Ich-Erzählerin Ksenia nicht einfach, da sie schon ihre Herkunft nicht in einem Begriff beschreiben kann.
Ist sie russisch, deutsch, jüdisch, Zeugin Jehovas, Mutter, Schriftstellerin, Wissenschaftlerin? Wohl von allem etwas.
Meine Familie war ziemlich konservativ, aber auf ihre eigene, originelle Art. Bei uns zu Hause herrschte eine Mischung aus russischer Familientradition, sowjetischer Zensur, religiösem Fanatismus und den individuellen Spezifika meiner Eltern. In der dunklen Perestroika-Zeit, als sie mit zwei kleinen Kindern in einem WG-Zimmer hausten und ums Überleben kämpften, waren sie Zeugen Jehovas geworden und haben nicht mehr von ihrem Glauben abgelassen. Als ich vier Jahre alt war, zogen wir nach Deutschland, ich hatte einen jüdischen Großvater, der bereits in Deutschland war, diesem Großvater durften fünf andere Personen, seine Frau, seine Tochter, sein Schwiegersohn, seine Enkelkinder folgen.“
Durch diese Zerrissenheit, diese Unentschiedenheit wird die Ich-Erzählerin zu einer vielschichtigen Persönlichkeit. Was für mich durch diese vielen kurzen Kapitel noch unterstrichen wird. So passt für mich die ungewöhnliche Form absolut zum Inhalt.
Stimmung
Den Titel 153 Formen des Nichtseins empfinde ich als recht negativ. Denn die Protagonistin ist zwar hin- und hergerissen, vereinigt aber in ihrer komplexen Persönlichkeit so viel Züge die ihr Sein ausmachen, dass ich „153 Formen des Seins“ als passender empfunden hätte.
Denn das Buch hinterlässt bei mir keinen negativen, depressiven Beigeschmack. Ganz und gar nicht.
Denn den Abschnitten wohnt auch immer wieder ein humorvoller Unterton inne. Dadurch wird das ganze Konstrukt wunderbar leicht zu lesen und zu verdauen.
Auch wenn sei zum Beispiel von einer Kindheit in einer Gemeinde schreibt, in der sie fast unsichtbar ist. Als würde sie von den Gemeindemitgliedern wie auch von den Eltern nicht wirklich „gesehen“ wurde.
Passend zum Titel hat Slata Roschal auch den Namen der Ich-Erzählerin gewählt. Die Bedeutung des Namens Ksenia kann mit „dir Fremde“ übersetzt werden. Sie fühlt sich in den verschiedenen Umgebungen ihres Lebens fremd und bleibt auch irgendwie sich selbst fremd.
Ich musste mir zur Lektüre Zeit nehmen, das Buch ist nicht dick, doch ich brauchte Lesepausen und musste einige Sätze erst mal einwirken lassen.
153
Alle Formulierungen im Buch wirken auf mich sehr präzise, mit Bedacht gewählt.
So ist auch die Anzahl der Fragmente, 153, kein Zufall.
Ich bin gar nicht selbst auf die Idee gekommen danach zu suchen, sondern meine Bloggerkollegin Sabine Gelsing.
Diese Zahl hat auch in der Bibel eine Bedeutung. 153 ist die Anzahl der der Kapitel der ersten vier Bücher der christlichen Bibel welche mit den ersten vier Büchern des jüdischen Tanach identisch sind. Diese Kapitel bilden also eine feste Verbindung zwischen den beiden Religionen. Das passt auch genau auf Ksenia, die Ich-Erzählerin in diesem Buch.
Fazit
Das Buch 153 Formen des Nichtseins von Slata Roschal ist eine eigenwilliges, originelles Buch, das von feinem Humor durchzogen ist. Ein poetisches Mosaik einer vielfältigen Persönlichkeit.
Debütpreis 2022
Seit 2016 lobt der Blog Das Debüt einen Bloggerpreis für das beste Debüt des Jahres aus.
Die Bloggerinnen von Das Debüt lesen sich durch eine lange Liste mit dazu eingereichten Büchern und erstellen daraus eine Shortlist von fünf Titeln.
Diese werden dann von einer Jury aus Literaturblogger:innen gelesen und beurteilt. An dieser Jury darf ich seit ein paar Jahren teilhaben
153 Formen des Nichtseins von Slata Roschal gehört zu der Shortlist für das beste Debüt von 2022.
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153 Formen des Nichtseins von Slata Roschal
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