Birgit Rabisch: Unter Markenmenschen
Sonntag, 16. August 2020
Marke Mensch versus Natur
Simone ist eine ganz normale junge Frau. Und das ist das Problem. Denn in der Zeit, in der sie lebt, ist es Standard Kinder in einem fertigen Design zu bestellen. Gentechnisch manipuliert genügen diese Kinder dann den gängigen Schönheitsidealen und anderen Qualitätskriterien. Birgit Rabisch betrachtet in diesem Buch wie es sein mag, sich gegen (bessere?) Markenmenschen zu behaupten.
Simone
Sie nimmt uns für ein paar Monate mit in ihr Leben. Dazu ist das Buch in einer Tagebuchform geschrieben. Simone schreibt darin an ihre verstorbene Mutter, die ausgerechnet auch noch in der Genforschung gearbeitet hat. Niemand aus Simones Bekanntenkreis ist eine Wildgeburt. Sonst sind alle Markenmenschen.
Sie lebt mir ihrem älteren Bruder zusammen, dieser hat das Glück ein Designmensch zu sein. Er kümmert sich liebevoll um seine kleine Schwester und macht ihr wertvolle Geschenke.
Freunde hat Simone nicht. Die Familie ist gut situiert, sie geht auf eine sehr gute Schule. Doch dort ist sie die einzige, die kein designter Markenmensch ist. So bekommt der Titel direkt zwei Bedeutungen, denn Simone lebt unter Markenmenschen und diese sehen auf sie herab. Sie entspricht einfach nicht dem erwarteten Schönheitsideal. Die inneren Werte interessieren in diesem Umfeld nicht.
Es gibt Außenbezirke, in denen Wildgeborene wie sie leben. Doch dort wird sie auch nicht akzeptiert, da sie ihre Erziehung und Bildung auch nicht einfach so ablegen kann. So bleibt sie meist allein und ist von ihrem Bruder abhängig.
Um mich herum bildet sich ein leerer Kreis, dessen Grenze niemand übertrat, als wäre er von einer hohen Mauer umgeben.
Interessanter Bezug zur heutigen Situation: der Unterricht in Simones Schule findet natürlich online statt, es gibt nur wenige Pflichttage, so dass sie den bestenfalls mitleidigen Blicken ihrer Mitschüler nicht zu oft ausgesetzt ist.
Simone blüht erst auf, als sie einen jungen Mann kennenlernt. Eine Liebesgeschichte, eine Art ungesunder Dreiecksgeschichte, entwickelt sich und stellt Simones Leben auf den Kopf.
Markenmenschen
Es ist in der Welt des Buches seit vielen Jahren ganz normal, dass sich junge Frauen sterilisieren lassen, damit es nicht zu einer Schwangerschaft durch Sex kommt. Wieviel besser ist es den Kinderwunsch detailliert zu planen. Nicht nur was den Zeitpunkt angeht, sondern vor allem das Aussehen und körperliche Merkmale. Natürlich können auch bestimmte Krankheiten herausgezüchtet werden. Wie heute zum Beispiel bei Hunden. Obwohl der Vergleich doch hinkt, da hier nicht gezüchtet, sondern im Labor an den Gensequenzen herumgeschnipselt wird. Und das ist keine Zukunftsmusik (s. Stand der Gentechnik).
Auf dem Gendesign-Markt haben sich bestimmte Typen, also Marken herausgebildet. Die Herkunft von einer bestimmten Marke ist direkt an einem hinzudesignten Markenlabel erkennbar. Wie der Knopf im Ohr bei einer bekannten Stofftiermarke. Und damit wird auch direkt klar, wieviel sich die Eltern den Nachwuchs haben kosten lassen.
Doch hat das auch Kehrseiten. Denn das Design entwickelt sich fort. So kann man sich selbst als Markenmensch schnell mal in einem Körper wiederfinden der eben nicht mehr modern ist.
Es gibt auch noch eine Steigerung zu Markenmenschen: Klone. Diese sind noch teurer und vor allem ganz exklusiv. Simones Freund Jean-Paul ist zum Beispiel ein solcher Klon. Dies leisten sich vor allem berühmte Menschen, die bestimmte Eigenschaften (hier die Singstimme) weitergeben möchten.
Stand der Gentechnik
Das Schaf Dolly ist sicher noch allen ein Begriff. Seither hat sich die Gentechnik aber mit Siebenmeilenstiefeln fortentwickelt. Allerdings wird das nicht an die ganz große Glocke gehängt. In den meisten Ländern sind Versuche an und mit Menschen auch verboten.
Doch längst technisch möglich. Einen Hinweis darauf gibt schon das Cover: CRISPR mit der daneben abgebildeten Schere. Denn die sogenannte DNA-Schere gibt es tatsächlich schon längst.
Die CRISPR/Cas-Methode ist eine molekularbiologische Methode, um DNA gezielt zu schneiden und zu verändern. Gene können mit dem CRISPR/Cas-System eingefügt, entfernt oder ausgeschaltet werden, auch Nukleotide in einem Gen können geändert werden. Aufgrund der einfachen Durchführung, der Skalierbarkeit hinsichtlich unterschiedlicher Zielsequenzen und der geringen Kosten wird die CRISPR/Cas-Methode zunehmend in der Forschung eingesetzt.
Quelle: Wikipedia
In China wurden bereits 2018 Babys geboren, deren DNA angeblich damit manipuliert wurden. Forscher erhofften sich eine HIV-immunität. Dieser Tabubruch löste eine weltweite ethische Diskussion aus. Selbst die chinesische Regierung distanzierte sich von diesem Vorfall. Infolgedessen sind Babys und Forscher in der Versenkung verschwunden.
Natürlich wäre es schön, wenn schwere Krankheiten nicht mehr auftreten, einige sind durch Gentechnik auch in Simones Welt ausgerottet, doch ist die Veränderung des genetischen Codes ethisch vertretbar? Spannendes Diskussionsthema, dieses Buch würde ich als Lesekreisbuch empfehlen.
Entstehung des Romans
Dieses Buch ist aus zwei Kurzgeschichten von Birgit Rabisch entstanden schrieb. Eine für ein Sci-Fi-Festival, eine andere für eine Anthologie. Letztere, „Spiegel verkehrt“, wird auch wieder in Unter Markenmenschen selbst erwähnt. Ein witziges Detail.
Unter Markenmenschen erschien erstmalig 2002 im Fischer-Verlag. Birgit Rabisch hat ihn überarbeitet. Er wurde durch ein Vorwort der Autorin ergänzt, das den Bezug zur Geschichte und zum heutigen Stand der Gentechnologie erklärt.
Im Nachwort beschreibt Birgit die Entstehung des Romans. Dies sind interessante Ergänzungen zum Buch.
Fazit
Unter Markenmenschen ist ein brandaktueller Roman über eine mögliche Zukunft der Menschheit. Es gibt viele aktuelle Bezüge zu unserer jetzigen Gesellschaft, die zu anregenden Diskussionen einladen. Durch die tabubrechende Liebesgeschichte und das vielschichte Verhältnis zum Bruder bekommt der Roman noch eine weitere Ebene.
Rabisch bei leckere Kekse
Folgende Bücher habe ich von Birgit Rabisch bereits besprochen:
Die vier Liebeszeiten
Wir kennen uns nicht
Die schwarze Rosa
Außerdem habe ich bereits zwei Interviews mit ihr geführt, einmal 2016 im Zusammenhang mit „Die vier Liebeszeiten“. Dann auch noch Anfang 2020: Interview zu „Die schwarze Rosa“.