Rezension: Nichts, was uns passiert
Sonntag, 23. Dezember 2018
Debütroman von Bettina Wilpert
Leipzig im Jahr 2014. Es ist Sommer. Es ist heiß. Fussball-WM. Anna und Jonas lernen sich zufällig kennen. Nach einer Geburtstagsfeier, auf der sie beide eingeladen waren, sagt Anna: Jonas hat mich vergewaltigt.
Wem wird geglaubt? Wie geht es dem Opfer? Was passiert mit dem Täter? Wie verändert sich deren Leben und Umfeld?
Solchen Fragen behandelt dieser Roman.
Vergewaltigung
§177 des deutschen Strafgesetzbuches behandelt folgende Straftaten: „Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung. Dem erstenAbsatz habe ich folgende Definition entnommen:
Wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt …
Ganz ehrlich: mir war gar nicht klar, dass Vergewaltigung definiert werden muss. Ist Täter und Opfer nicht klar was passiert?
Wohl nicht immer. Dieses Buch beschreibt die Tat, das Vorher und Nachher. Es liest sich wie der Bericht eines Außenstehenden, jemand, der nach dem Handlungszeitraum des Buches mit allen Beteiligten oft gesprochen hat. Jemand, der versucht neutral zu bleiben und keine eigene Meinung einnimmt.
Interessante Erzählperspektive, von der ich nicht weiß, wie man sie korrekt benennt.
Die Tat
Wilpert sucht sich keinen „klaren“ Fall aus, sondern eine Tat, die nicht die „typische“ Vergewaltigung beschreibt, die dem Bild entspricht, dass ich bei diesem Wort vor Augen habe: Mann überfällt Frau, tut ihr physische und sexuelle Gewalt an.
Dieser Plot sät Zweifel. Täter und Opfer hatten schon vorher mehrmals einvernehmlichen Sex. Täter und Opfer waren sehr betrunken. Anna noch mehr als Jonas. Ist sie selbst schuld, dass es zu ungewolltem Sex kam? Solche Fragen werden ihr und dadurch auch mir als Leserin gestellt.
Und konnte Jonas in seinem Zustand noch beurteilen was er da tat? Ist das überhaupt relevant?
Ein Fall, der nicht so „offensichtlich“ ist, wie andere sexuelle Übergriffe. Ist es eine Grauzone? Darf es da überhaupt eine Grauzone geben? Sollte es nicht um die Gefühle des Opfers gehen?
Das Opfer
Ist Opfer überhaupt ein guter Begriff? Wird die Betroffene dadurch nicht auch geschwächt? Ich lasse den Begriff stehen, in Ermangelung eines Besseren.
Anna kellnert in einer Kneipe, lebt in einer Mini-WG, raucht und trinkt, ist diskutierfreudig und bereitet sich auf das Leben nach der Uni vor. Sie hat noch keine festen Pläne, lässt sich etwas treiben und genießt den Sommer. Nachdem sie Jonas über einen gemeinsamen Freund kennenlernte, trafen sie sich zufällig häufiger. Anna hatte ein paarmal Sex mit ihm, doch an einer Beziehung war sie nicht interessiert. Er war nicht ihr Typ. Doch sie redeten und diskutierten viel, sie waren selten einer Meinung und empfanden das als anregend.
Anna zeigt Jonas erst Monate nach der Tat an. Wichtig ist ihr dabei nicht unbedingt Jonas Bestrafung nach dem Gesetz. Sie erwartet hauptsächlich eine Erklärung und eine Entschuldigung. Anna ist durch die Vergewaltigung ziemlich durch den Wind und verändert sich sehr. Es macht sie fertig. Sie erhofft sich durch das Verfahren auch eine Klärung ihres Lebens. Doch wie werden ihre Freunde, Kollegen, Eltern reagieren, wenn sie hören was passiert ist? Das macht ihr Angst.
Anna steht an einem so wichtigen Punkt im Leben, ein Zeitpunkt, in dem sich die Weichen für ihren beruflichen Werdegang stellen sollten. Kann sie dafür überhaupt noch die Kraft finden?
Sie stellt sich auch die Frage, ob sie selbst eine Mitschuld trägt:
Sie wusste, dass es nicht ihre Schuld war. Sie sollte sich nicht schuldig fühlen. Das war nicht Aufgabe des Opfers. Aber ihre Wirklichkeit sah anders aus. Sie fühlte sich schuldig, dachte: Was hätte sie anders machen können? Hätte sie vorsichtiger sein sollen? Hätte sie weniger trinken sollen? Hätte sie gehen können? Dass sie ihre Gefühle nicht ändern konnte. Sie war froh, überhaupt etwas zu fühlen, nicht so wie an den ersten Tagen.
Was macht unsere Gesellschaft, also wir alle, falsch, dass ein Opfer sowas denken muss? Wieviel von uns denken insgeheim dasselbe? Kein Wunder, dass die geschätzte Dunkelziffer von Vergewaltigungsfällen so hoch ist.
Der Täter
Jonas schreibt an seiner Dissertation, kommt aber nicht recht voran. One-Night-Stands sind eigentlich nicht seine Sache. Doch irgendwie landete er halt mit Anna ein paarmal im Bett. Jonas ist sensibel, kommt aus einem guten Elternhaus, er ist kein Macho und engagiert sich auch sozial. Ist er trotzdem ein Monster? Oder kann man Vergewaltiger sein und trotzdem guter Mensch?
Sein Leben wird durch die Anzeige mehr oder weniger zerstört. Er verliert seinen Job, seine Freunde, sein soziales Umfeld.
Eigentlich ist Jonas so ein netter Kerl. Kann er das wirklich getan haben? Er ist sich seiner Schuld nicht bewusst.
Das Umfeld
Der gemeinsame Freund Hannes wird zerrissen. Er kann einfach nicht glauben, dass sein netter Kumpel Jonas sowas getan haben soll. Doch will er auch seiner langjährigen Freundin Anna zur Seite stehen. Warum muss er überhaupt zu einer Seite gehören? Kann sein Leben nicht weitergehen wie bisher?
Handelt es sich vielleicht auch um eine Falschbeschuldigung? Was ist, wenn Anna lügt? Was ist wirklich passiert?
Eine Frau aus Jonas Bekanntenkreis versucht neutral zu bleiben:
Sie wolle sich kein Urteil anmaßen. Es war falsch, was gerade passierte: Dass alle dächten, sie hätten das Recht, sich auf eine Seite zu schlagen und zu urteilen, was wahr und was falsch ist. Dies müsste ein Gericht beurteilen…
Das gesamte soziale Umfeld der beiden Beteiligten wird in den Fall mit hineingezogen. Die Tat zieht weite Kreise, auch einige völlig Unbeteiligte mischen sich ein. Ist es nicht auch die Pflicht der Gesellschaft dies zu tun? Oder ist das eine Sache zwischen dem Gesetz, Anna und Jonas?
Gibt es Neutralität beim Verdacht auf Vergewaltigung? Ist es nicht unsere Pflicht Stellung zu beziehen? Doch was ist, wenn es sich doch mal um eine Falschbeschuldigung handelt? Wenn ein Opfer direkt mit diesem Verdacht konfrontiert wird: wie soll es dann den Mut finden eine Anzeige zu erstatten?
Zwei Seiten
Einige Ereignisse sind aus Annas und Jonas Sicht beschrieben. Nicht nur die Tat selbst, auch wie sie sich kennenlernten, ein paarmal trafen, auch der Kontakt nach der Tat und nach der Anzeige. Dabei wird klar, dass die Erinnerung auch an diese anderen Ereignisse voneinander abweicht. Was wohl auch ganz normal ist. Kann ich mich noch genau erinnern, wie ich diesen oder jene kennenlernte? Wann ich was gemacht habe? Würde mein Gegenüber dasselbe erzählen? Eher nein.
Wirkung
Während des Lesens war ich hin- und hergerissen. Natürlich habe ich verstanden, dass es sich um eine Vergewaltigung handelt. Doch ist in diesem Fall die Zerstörung von Jonas Leben gerechtfertigt? Gibt es eine „leichte“ Vergewaltigung? Natürlich nicht, das weiß ich.
Jonas wirkt so unschuldig. Doch jeder Mensch kann zum Täter werden. Auch der nette Junge von Nebenan. Oder die nette Frau. Man sieht Tätern die Schuld nicht an. Ich kann auch Opfern nicht ansehen, was ihnen passiert ist.
Reicht eine eventuelle Strafe durch das Gesetz aus? Wie würde ich reagieren? Wem würde ich glauben? Ist das relevant?
Was würde ich Betroffenen raten? Natürlich empfinde ich eine Anzeige, möglichst sofort, als den richtigen Weg. Zwei Monate später können keine Beweise mehr ermittelt werden. Doch wird Annas Leben dadurch besser oder schlechter? Hat Jonas verdient es auch ohne Schuldbeweis so behandelt zu werden? Wie kann Vergewaltigungsopfern geholfen werden? Wie können sie das Trauma der Tat überwinden?
Ich habe dieses Buch auch mit meinen Teenager-Töchtern diskutiert. Es ist mir wichtig, dass sie selbst über ihren Körper bestimmen. Meine Töchter erscheinen mir sehr selbstbewusst. Doch wie würde eine Vergewaltigung auf eine selbstbewusste junge Frau wirken? Was heißt hier „würde“. Dieses Buch beschreibt genau das.
Titel
Geniale Wahl. So vieldeutig:
Eine Vergewaltigung ist nichts was mir passiert.
Ich werde doch nicht zum Vergewaltiger.
Ich als Teil der Gesellschaft hatte noch nicht mit „sowas“ zu tun.
Allein, dass das Wort Vergewaltigung nicht im Titel vorkommt. Wird nicht vieles noch unter den Teppich gekehrt, nur hinter vorgehaltener Hand besprochen? Wird die Tat nicht sehr oft nicht beim Namen genannt?
Fazit
Ein Buch, das von jedem gelesen werden sollte. Die Art der neutralen Berichterstattung ist sehr gut gewählt. Der Roman birgt sehr viel Diskussionsstoff. Ich habe viel über das Buch, meine Gefühle und mögliche Handlungsalternativen nachgedacht. Das Buch hat definitiv einen langen Nachhall.
Links
Interview mit Bettina Wilpert vom ZDF
Strafgesetzbuch (StGB): § 177 Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung
Die sogenannten Istanbul-Konvention, offizieller Titel Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt
Statistische Zahlen vom BKA
Beratungsstellen:
Gewalt gegen Frauen
Soforthilfe nach Vergewaltigung
Polizei Beratung
Bloggerpreis
Der Blog Das Debüt lobt alljährlich einen Preis für das beste deutschsprachige Debüt aus. Die Jury besteht aus Bloggern.
Es gibt eine Liste mit eingereichten Titeln, auf der sich viele interessante Titel finden lassen. Davon haben es fünf Romane auf die Shortlist geschafft. Nichts, was uns passiert aus dem Verbrecher Verlag ist einer davon.
Ausserdem stehen auf der Liste Bevor wir verschwinden, Alles was glänzt, Orchis und Der letzte Huelsenbeck.
Alle teilnehmenden Blogs sind hier zu sehen.
Weitere Stimmen zum Buch
- Marc Richter von Lesen macht glücklich
- Eva Jancak von Literaturgeflüster
- Marina Büttner von literaturleuchtet
Liebe Silvia,
Eine sehr interessante Rezension. Das Buch hat mich sehr interessiert, obwohl das Thema natürlich sehr schwierig ist. Oder vielleicht auch gerade deswegen. Weil es auch so eine spannende Perspektive zu sein scheint, weil eben beide Seiten beleuchtet werden.
Der Titel steht auf jeden Fall weit oben auf meiner Wunschliste.
Liebe Grüße, Julia
Hallo Julia,
allein schon wegen des Diskussionspotenzials eine unbedingte Leseempfehlung.
Alles Gute
Silvia
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