William Boyd: Die Fotografin
Sonntag, 21. Februar 2016
Eine Biografie, die keine ist
Eine Biografie als Roman. Nichts unübliches in letzter Zeit. Viele Biografien, die ich in letzter Zeit gelesen habe, waren Biografien in Romanform. Das heißt, die Personen gab es wirklich, die Tatsachen stimmen zum größten Teil, nur die Dialoge sind nicht echt, sondern nur so wie sie hätten sein können.
Also dachte bei Beginn des Buches, dass es die Fotografin Amory Clay wirklich gab. Dass mir der Name nichts sagte, schrieb ich meiner mangelnden Allgemeinbildung zu. Nach den ersten Seiten und den ersten Fotos wurde ich dann stutzig und informierte mich.
Dieses Buch ist eine gut inszenierte Biografie über eine fiktive Person. Durch die stimmigen geschichtlichen Ereignisse drumherum und die auf Flohmärkten zusammengesuchten Fotos erstaunlich glaubwürdig.
…nur die Fotografie vermochte die Zeit anzuhalten; verhalf uns mit jener eingefangenen Millisekunden unserer Existenz dazu, ewig zu leben.
Inhalt
Amory Clay, 1908 – 1983, erzählt 1977 rückblickend die Geschichte ihres Lebens. Alleine mit ihrem Hund lebt sie in einem kleinen schottischen Cottage, einsam gelegen in herrlicher Natur. Dort stöbert sie in alten Fotoalben und Kartons.
Zu ihrem siebten Geburtstag bekommt sie von ihrem Onkel ihre erste Kamera geschenkt. Im Laufe der nächsten Jahre bringt er ihr die Fotografie bei. Im Internat hat die erfolgversprechende Schülerin sogar eine kleine Dunkelkammer, in der sie ihre Aufnahmen entwickeln kann. Als Berufswunsch gibt sie Fotografin an, während ihre Direktorin sie in Cambridge sieht. Nach einem dramatischen Erlebnis mit ihrem Vater, der schwer traumarisiert aus dem ersten Weltkrieg zurückkehrte, schafft sie aber nur gerade eben ihren Schulabschluss, so dass sie danach bei ihrem Onkel in die Lehre geht und sich einen Namen als Fotografin machen möchte.
Ihre erste Ausstellung floppt. Zum Glück hat sie inzwischen einen einflussreichen Amerikaner kennen und lieben gelernt, der ihr einen Job in New York verschafft. Die Beziehung ist nicht einfach und so geht sie nach Europa zurück, um dort eine Dependance einer Fotozeitschrift zu führen. Nach einem brutalen Überfall verschafft ihr der Liebhaber wieder einen Job in New York, der sie aber nicht ausfüllt. Modefotografien liegen ihr nicht und so geht sie nach der deutschen Kapitulation Frankreichs nach Paris, um erneut eine Dependance zu leiten. Die letzten Kriegsmonate verbringt sie an der Front und hält die letzten Kriegsgeschehnisse mit ihrer Kamera fest. Dabei lernt sie ihren späteren Mann kennen.
Das Thema Krieg lässt sie fortan nicht mehr los und so verschlägt es sie in ihren späteren Jahren nach Vietnam.
Meine Meinung
Eine wirklich interessante Lebensgeschichte, die mir durch die verwendeten Fotos sehr real vorkommt. Immer wieder muss ich mir vergegenwärtigen, dass diese Frau fiktiv ist.
William Boyd beschreibt seine Protagonistin als emotionslose alte Dame, die alle Erlebnisse in ihrem Leben als gegeben hinnimmt. Nie wird sie wirklich emotional. Selbst sagt sie an einer Stelle von sich:
Mir fehlte dieses Glühen, wenigstens das wußte ich mit Bestimmtheit…
Ich muss gestehen, auch mir fehlte dieses Glühen. Nie brennt sie so richtig für eine Sache. Nie spürt man Leidenschaft bei ihr. Weder beim Fotografieren noch bei ihren Liebesaffären. Mir scheint, da fehlte dem Autor ein wenig Einfühlungsvermögen in die weibliche Psyche.
Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen und kann es jedem empfehlen, der gerne Biografien liest und sich für die Geschichte des 20. Jahrhunderts interessiert. Für Fotografie-Begeisterte bringt es keinen Mehrwert. Die abgebildeten Fotografien sind Schnappschüsse, die es in den meisten Familienalben gibt und keine Bilder von ausgebildeten Fotografen.
Am Anfang des Buches gibt es ein Zitat von Jean-Baptist Charbonneau. Ein Protagonist im Roman, der Schriftsteller ist. Sollte es ihn wirklich gegeben haben? Wikipedia sagt ja. Ein Mann, der im 19. Jahrhundert gelebt hat. Boyd gefiel der Name wohl. Auch die Danksagung am Ende klingt merkwürdig. Bedankt er sich bei seinen eigenen Romanfiguren? Bei diesem Autor weiß ich nie, woran ich bin.
Zu guter Letzt fürchte ich, dass dem Autor die Illusion gut gelungen ist. In einigen Jahren werde ich es nicht mehr wissen. Gab es Amory Clay oder nicht?
Die Fotografin, William Boyd, DIE VIELEN LEBEN DER AMORY CLAY, ISBN: 978-3-8270-1287-6, Berlin Verlag, 560 Seiten
Hier gibt es weitere Rezensionen:
Literaturleuchter
Das ist ja witzig: meine Rezension zu diesem Roman ist auch heute online gegangen.
Und auch ich habe ein paar Kritikpunkte gefunden. U.a. habe auch ich etwas die Eigeninitiative von Amory vermisst. Im Grunde lässt sie sich ja ganz schön von ihren Liebhabern lenken. Unterm Strich komme ich zu einem ähnlichen Ergebnis wie Du.