Claudia Schumacher: Liebe ist gewaltig
Sonntag, 19. Februar 2023
Debütroman
Eine gut situierte Familie, die in der Nähe von Stuttgart lebt. Alles sehen gut aus, sind erfolgreich. Eine wahre Bilderbuchfamilie. Alles sehr repräsentativ. Von außen. Im Roman geht es hauptsächlich um die Tochter Juli. Das Buch gliedert sich in drei Teile. Der erste spielt 2007, dann folgt 2014 und 2016.
2007
Es geht um die Ich-Erzählerin Juli. Mathegenie, Klassenbeste, sportlich, gutaussehend. Und in einer stationären Rehaklinik.
Nach und nach kommt raus warum, was in ihrer Familie tagtäglich abläuft
Juli hat „irre Eltern“. Sie spricht von einer „durchgeknallten Aufschneiderfamilie“.
In ihrem Zuhause, das eigentlich ja eine Zuflucht sein sollte, herrscht Gewalt. Der Vater ist ein erfolgreicher, in der Gesellschaft angesehener Anwalt. Aber es ist auch ein prügelnder Tyrann. Juli, ihre beiden Brüder und ihre Mutter werden regelmäßig von ihm misshandelt. Die Mutter leidet, nimmt aber die Rolle als Opfer an. Stellt sich auch nicht vor die Kinder, versucht aktiv alles zu vertuschen, so können die Kinder schon mal nicht in die Schule gehen, weil die Spuren zu sichtbar sind. Die drei Kinder gehen sehr unterschiedlich mit der Situation um, auch später haben sie unterschiedliche Verdrängungsmechanismen.
Die Sprache ist häufig aggressiv, temporeich, rotzig. Einer Siebzehnjährigen angepasst.
Was geht in einem Kind und einer Jugendlichen vor sich, das ständig Angst haben muss? Schumacher versucht das zu skizzieren.
Warum fällt niemandem auf, dass die Kinder geschlagen werden? Weil der Vater sich auch zu benehmen weiß. Nach außen und gegenüber Gästen ist er sehr charmant, aufmerksam. Dann hat er eine Frau, die diese Gewalt zwar selbst erfährt, und trotzdem wie eine Tatortreinigerin alle Spuren verwischt. Denn Haltung und Ansehen geht ihr über alles. Was für ein geringes Selbstwertgefühl diese Frau haben muss.
Liebe ist gewalttätig
Ich bin manchmal so wütend auf Papa, dass ich ihn mir tot vorstelle. Verreckt im Straßengraben oder so, erwischt von einem zugedröhnten Raser bei Nacht. Oder ich denke: Verprügle mich noch einmal richtig und ich gehe mit den blauen Flecken zum Jugendamt. Dann heule ich und denke: Papa, ich liebe dich!
Liebe kann gewalttätig sein. Es tat mir richtiggehend weh, solche Abschnitte zu lesen. Obwohl Juli kein großes Aufhebens darum macht. Es ist für sie einfach so. Wie ein Naturgesetz. Sie kennt es nicht anders. Entsetzlich!
2014
Sieben Jahre später wurde aus Juli Jules Sie will in Mathematik promovieren und verdient viel Geld als Profigamerin. Auch eine Liebesbeziehung hat sie.
Doch aufgrund ihrer Vergangenheit, ihrer verwundeten Seele, droht alles, was sie sich selbst aufgebaut hat zu scheitern.
Dazu passt das Zitat, das Claudia Schumacher ihrem Roman vorangestellt hat
Man kann mir nicht trauen.
Louise Glück
Denn ein verwundetes Herz
ist auch ein verwundeter Geist
2016
Im dritten Teil versucht sich die Ich-Erzählerin ein einer anderen Art Leben. Deshalb lässt sie sich jetzt Julia nennen. Durch den Namen versucht sie wohl Zeichen einer erfolgten Metamorphose zu setzen.
Sie folgt jetzt einem anderen Lebensentwurf.
Julia ist jetzt mit Thilo zusammen. Dieser versteht sich übrigens blendend mit Julias Vater.
Das junge Paar zieht nach Zürich. Julia gibt alles für die Unterstützung ihres Freundes. Der setzt sich wie selbstverständlich immer an die erste Stelle. Julia begibt sich in eine Abhängigkeit, die ihren Fähigkeiten so gar nicht gerecht wird. Sie droht zu einem Klon ihrer Mutter zu werden. Und genau das ist es, was Thilo gerne hätte. Julia redet sich ein, dass alles so sein muss. Zu sehr wurde sie in der Kindheit darauf gedrillt dem Hausherrn alles recht zu machen.
Als Thilos Karriere platzt, sucht er die Schuld nicht bei sich…
Tabu
Meine Eltern haben mich nicht geschlagen Doch weiß ich von anderen Gleichaltrigen, dass es in ihren Familien ganz anders zuging. Alle nahmen das hin. Ich habe es häufig erst viel später erfahren. Auch hier wurde alles fein hübsch unter den Teppich gekehrt. Aber das war in den 1970iger Jahren. Da gab es noch eine ganz andere Sicht auf die Erziehung der eigenen Kinder. Womit ich Misshandlung natürlich nicht rechtfertigen möchte. Doch dieser Roman spielt im 21. Jahrhundert. Es scheint sich in der Hinsicht seit meiner Kindheit nicht viel geändert zu haben.
Gewalt in der Familie ist immer noch ein Tabu. Die Betroffenen reden nicht darüber. Alles wird vertuscht. Und das ist keine Frage des sozialen Standes, wie dieser Roman sehr deutlich aufzeigt.
Das das Setting eine wohl situierte Familie zeigt, finde ich sehr wichtig. Oft wird mir über Filme, Presse und Bücher der Eindruck vermittelt, dass Prügelei ein Problem von bildungsfernen und finanziell nicht gut gestellten Familien ist.
Doch Gewalttätigkeit ist keine Frage des Bankkontos oder des Intelligenzquotienten oder der Berufswahl. Sie kommt in allen Schichten, überall auf der Welt vor. Wahrscheinlich wird auch überall nicht darüber gesprochen.
Solange dieses Tabu nicht häufiger gebrochen wird, Anzeichen nicht häufiger hinterfragt werden, wird es immer zerbrochene Seelen wie die von Juli und ihren Brüdern geben.
Fazit
Liebe ist gewaltig von Claudia Schumacher beschreibt sehr souverän die möglichen Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf die Psyche der Opfer. Der Roman löste bei mir durch den authentischen, individuellen Ton von Juli/Jules/Julia eine starke Betroffenheit aus.
Debütpreis 2022
Seit 2016 lobt der Blog Das Debüt einen Bloggerpreis für das beste Debüt des Jahres aus.
Die Bloggerinnen von Das Debüt lesen sich durch eine lange Liste mit dazu eingereichten Büchern und erstellen daraus eine Shortlist von fünf Titeln.
Diese werden dann von einer Jury aus Literaturblogger:innen gelesen und beurteilt. An dieser Jury darf ich seit ein paar Jahren teilhaben. Liebe ist gewaltig von Claudia Schumacher gehört zu der Shortlist für das beste Debüt von 2022.
Alle Bücher der Shortlist
153 Formen des Nichtseins von Slata Roschal
Liebe ist gewaltig von Claudia Schumacher
Ist hier das Jenseits, fragt Schwein von Noemi Somalvico
Lektionen in dunkler Materie von Ursula Knoll
Nordstadt von Annika Büsing