Nachlese Borkum
Sonntag, 14. November 2021

Kurzurlaub an der Nordsee
Eine Woche möglichst gar nichts tun, das haben wir uns für unseren Urlaub auf Borkum vorgenommen. Viel rauen Wind um die Nase wehen lassen und natürlich lesen.
Welche Bücher ich im Urlaub gelesen habe und was die Insel für uns zu bieten hatte, erzähle ich in diesem Post.
Besichtigung eines Unglücks
Das war mein erster Roman des Autors Gert Loschütz. Er spielt in verschiedenen Zeitebenen. Ein Mann, Thomas Vandersee, recherchiert über das bisher schwerste Zugunglück in Deutschland. Es passierte 1939 in Genthin. Thomas Verbindung dazu ist recht lose. Seine Mutter wohnte zu der Zeit in Genthin. Was sie wohl mitbekommen hat? Hatte sie Kontakte zu den Verletzten? Besonders interessiert ihn das Schicksal von Carla, die einen falschen Namen angibt.
Der Schreibstil selbst gefiel mir ganz gut. Spannend fand ich die minutiöse Schilderung der Geschehnisse auf den Schienen vor dem Zugunglück. Doch die Verbindungen zum Protagonisten Thomas erscheinen mir zu lose. Das Zugunglück spielt später keine Rolle mehr, es geht um Vergangenheitsbewältigung. Unglücke in der Familie und bei anderen Menschen. Sehr viel Zufall, aber dieser macht ja häufig das Leben aus. Ich glaube zu verstehen, warum das Buch für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, denn es hebt sich durch die Konstruktion heraus, aber so wirklich begeistern konnte es mich nicht. Die Motive waren mir zu nebulös.
Zum Teil wird der Autor auch seiner eigenen Geschichte nachgespürt haben, denn er wurde 1946 in Genthin geboren.

Inselbahn
Kommt man in Borkum (ohne Auto) mit der Fähre an, wartet schon die kleine Inselbahn auf die Passagiere um sie in den Ort zu bringen. Ein Zugunglück gab es meines Wissens noch nicht. Irritiert waren wir über die Abfahrtszeiten der Züge für den Rückweg vom Ort aus. Die im Fahrplan angegebenen Fährzeiten richten sich nicht nach der Abfahrt der Fähre, sondern nach der Abfahrt der Inselbahn. Irgendwie logisch. Wir waren ohne Auto dort. Wir nahmen den Katamaran von Emden aus. Der braucht etwa eine Stunde. Alles hat ein wenig von einer Flugreise, auch das Innere des Schiffes. Ein Auto haben wir auf der kleinen Insel nun wirklich nicht vermisst.
Leider habe ich kein Foto von dem Bähnchen gemacht, ich habe überhaupt sehr wenig fotografiert.
Wo der Wolf lauert
Auf dieses Buch war ich besonders gespannt, weil ich Ayelet Gundar-Goshen im September schon auf einer Lesung in Köln erleben durfte.
Dieser Roman hat mich total überzeugt. Es gefiel mir viel besser als zum Beispiel „Lügnerin“. Das Buch ist spannend bis zum Schluss. Es geht um Gewalt, Antisemitismus, Rassismus, die Gesellschaft in den USA und in Israel, Auswanderung, Heimat. Und für mich vor allem um Mutterschaft. Wann ist der Zeitpunkt, an dem du feststellst, dass du dein Kind nicht kennst? Ich glaube an so einen Punkt kommt jede Mutter mal. Ich bin nicht so eine Helikoptermutter wie die Protagonistin Lilach Schuster, ihr Lebensinhalt ist ihr Sohn. Trotzdem kann ich vieles aus der Beschreibung der Mutter-Sohn-Beziehung wiedererkennen.

Reiten auf Borkum
Reiten am Strand ist so wunderschön! Auch auf Borkum habe ich diese Gelegenheit genutzt. Im Reitstall dort gibt es auch guten Unterricht. Sehr gut fand ich auch, dass man erst eine Reitstunde nehmen muss, dann erst „die Lizenz zum Galoppausritt“ bekommt. So ist das für alle wesentlich sicherer. Denn auch für die erfahrenen Reiter ist es nicht lustig, wenn da jemand mitgeht, der keine Ahnung hat, wie er auch mal in einer Gefahrsituation richtig reagiert. Oder nicht in der Lage ist, sein Pferd hinter dem Vorderpferd zu halten.
So waren nur Reiter mit dabei. Jeder Ausritt war anders, mal mit viel, mal wenig Wind, mal Sonne, mal sehr bewölkt.
Da meine „normale“ Reitmöglichkeit wegen Corona zugemacht hat, war ich froh diese Möglichkeit zum Reiten auf Borkum nutzen zu können.
Offene See
Dieser Roman von Benjamin Myers war 2020 das Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhandlungen. Zu Recht, wie ich meine.
Eine Insel ist ein guter Ort, um dieses Buch zu lesen.
Es spielt kurz nach dem zweiten Weltkrieg und ist auch im passenden Stil verfasst. Ein junger Mann möchte noch nicht in die Fußstapfen seines Vaters und Großvaters treten (Bergbau). Er packt ein paar Sachen in einen Rucksack und wandert los. Mit Tagelöhner Jobs hält er sich über Wasser, bis er eine ältere Dame kennenlernt und dort einiges an Arbeiten erledigt. Sie erzählen sich gegenseitig ihr Leben, sie öffnet ungeahnte Horizonte für ihn. Diese Begegnung ändert sein Leben.
Sehr interessant fand ich die Beschreibung der Verhältnisse in England nach dem zweiten großen Krieg. Natur spielt auch eine große Rolle. Das Buch ist so gut geschrieben, dass ich die Insekten und Vögel hören, die Hitze spüren und die Pflanzen riechen konnte.
Ein ruhiges, melancholisches Buch. Sicher nicht das letzte, dass ich von diesem Autor lesen werde.

Das Meer
Auf einer so kleinen Insel ist das Meer natürlich allgegenwärtig. Im Hotelzimmer konnten wir die Wellen hören. Oft liegt der Geruch nach Salzwasser in der Luft.
Auf den Sandbänken sonnen sich bei Ebbe die Seehunde, ich empfehle ein Fernglas mitzunehmen.
Es gab Surfer und Kiter, denen ich fasziniert zusah.
Der Strand lädt zu langen Spaziergängen ein. Auch jetzt im Herbst wurden eifrig Sandburgen gebaut. Ich denke im Sommer ist das ein Paradies für Kinder.
Tote ohne Namen
Zwischendurch war mir nach einem Krimi. Der Suhrkampverlag hat da ein gutes Händchen, wenn es um Thriller mit starken Frauenfiguren geht. Auch dieser Thriller von Louisa Luna gefiel mir gut. Die Privatdektektivin Alice Vega wird gebeten, den Fall von zwei namenlosen Mädchenleichen zu übernehmen. Sie bettet dabei Max Caplan zu Hilfe. Sie haben zusammen schon mal einen großen Fall gemeinsam gelöst. Und das war das Problem des Buches. Es gibt vorher schon Bücher zu dieser Reihe, aber hier in Deutschland nicht veröffentlicht wurden. Tote ohne Namen hat sehr viele Verweise auf den vorherigen Fall. Der Story konnte ich trotzdem folgen, aber die Entwicklung der Hauptfiguren ist ja das, was eine Reihe für mich ausmacht. Natürlich hätte ich das vorherige Buch auf englisch lesen können, aber bis ich das begriffen habe, war ich hier ja schon mitten drin. Warum setzte der Verlag nicht mit dem ersten Band auf? Ist der so schlecht?
Dieser war ganz gut, vielleicht etwas unrealistisch, aber er nahm die Probleme an der mexikanischen Grenze ganz gut auf. Brutal war er auch, aber da habe ich schon Härteres gelesen. Thema war neben Mord auch Zwangsprostitution von Kindern und Jugendlichen.

Türme
Es gibt mehrere Leuchttürme auf Borkum. Einer ist direkt im Zentrum des Ortes und auch jede Nach in Betrieb. Dann gibt es noch den alten Leuchtturm, einen kleinen und Wassertürme. Auch erstaunlich viele Kirchen für einen Ort mit knapp über 5000 Einwohnern.
Der ganze Ort ist eindeutig über Jahrhunderte gewachsen. Alle steht kreuz und quer, es gibt keine einheitlichen Baustile. Das gefällt mir ganz gut. Du kannst dort Zäune sehen, die mehrere hundert Jahre alt sind und aus Walknochen bestehen. Denn Borkum war eine Station für Walfänger.
Dann gibt es protzige Bauten aus der Jahrhundertwende, denn da war Borkum ein beliebtes Heilbad. Und dann gibt es die vielen, vielen Ferienhäuser. Jetzt im November war schon einiges los, ich möchte dort nicht im Sommer sein (obwohl die Strände sehr einladend aussehen).
Vierunddreißigster September
Ich kenne die vorherigen Bücher von Angelika Klüssendorf, die sich mit dem Leben einer jungen Frau beschäftigen (Das Mädchen, April, Jahre später).
Dieser Roman ist die Geschichte eines Dorfes in Ostdeutschland, vom zweiten Weltkrieg über die Wende bis heute. Und die Geschichte von vielen Einwohnern dort, Toten, wie auch Lebenden.
Walter erfährt durch einen Hirntumor eine starke Wesensveränderung. Seine Frau Hilde erschlägt ihn mit der Axt. Walter „erwacht“ wieder als Toter auf dem Dorffriedhof. Er trifft dort einige Bekannte und auch Unbekannte. So ähnlich wie bei Seethalers Das Feld kommen hier die Toten zu Wort. Sie können das Dorf nicht verlassen, aber ansonsten so ziemlich alles, bis zum Erlernen neuer Sprachen und Nutzung des Internets. Das ist sehr skurril, auf eine für mich schöne Art. So entsteht eine Art Episodenroman, der von Menschen und ihren Träumen erzählt. Zwei haben es mir besonders angetan: Röschen, der es nicht gelingt zu sterben und die Transfrau Gabriela. Es gibt einen alten Keiler, eine Schildkröte, viele Säufer und sogar einen Besuch von Steven Spielberg. Im Ort gibt es auch eine namenlose Schriftstellerin. Wer weiß wieviel von Klüssendorf in ihr steckt…

Radeln und Essen
So ganz ohne Bewegung geht es bei uns irgendwie nicht. Wir haben uns für die Woche auf Borkum Hollandräder geliehen und sind fast jeden Tag damit ein wenig unterwegs gewesen. Es gibt viele Radwege dort, auch auf den Straßen ist relativ wenig Verkehr. Die Landschaft ist abwechslungsreich. Mal sieht man das Meer, mal Sanddünen, es gibt aber auch moorartige Gebieten und auch kleine Wälder. Es gibt auch viele Wanderwege, die mit dem Rad nicht befahren werden können und dürfen. Und wir haben ganz viele Regenbögen gesehen.
Überall sind Cafés, Bars, Restaurants, so dass auch die Pausen schön werden. Allerdings hatte jetzt Anfang November auch schon einiges geschlossen. Doch auch abends haben wir immer gut gegessen. Besonders empfehlen kann ich Klein und Fein und Störtebeker.
Gestört hat uns allerdings ganz extrem, dass in Lokalen, in denen nicht gegessen wird, geraucht werden darf. Das ist hier in NRW überall verboten. Dort gab es abends nichts, wo wir uns mit einem Glas Wein oder Bier ohne Qualm hinsetzen konnten. Niedersachsen ist ein Raucherparadies. Ich würde mir sehr wünschen, dass dort mal ähnliche Regeln gelten wie hier.
Schöner Urlaub
Insgesamt war es eine wunderschöne Woche auf Borkum. Das Wetter war viel besser als ich es erwarten konnte. Wir haben uns gut erholt und überlegen, auf welche Insel wir nächstes Jahr fahren werden.