Rezension: Die wir liebten
Sonntag, 3. Mai 2020
Roman von Willi Achten
Edgar und Roman sind zwei ganz normale Teenager. Sie leben in einem kleinen Dorf in der westdeutschen Provinz. Das Buch ist in den Jahren 1971 – 1976 angesiedelt.
Die Eltern sind rechtschaffene Leute, der Vater betreibt eine Bäckerei, die Mutter einen Lottoladen.
Sie sind eine normale glückliche Familie. Mutter, Vater, Großmutter und weitere Verwandte wohnen im Haus der Familie zusammen. Großmutter schmeißt den Haushalt und kümmert sich um die Jungs und eine alte tüdelige Tante. Die Jungen genießen die Freiheiten, die damals für eine Kindheit normal waren. Stundenlange Ausflüge in den Wald, in die Ruinen der Stadt, zum Badesee. Edgar und Roman sind typische Jungs, die auch schon mal Blödsinn im Sinn haben.
Doch die heile Welt löst sich ganz langsam auf. Es beginnt auf einem Dorffest. Der Vater verliebt sich, verlässt die Familie. Was heute als normal angesehen wird, war damals nicht üblich. Ein Vater verließ seine Familie nicht. Scheidungen waren sehr unüblich.
Edgar, der Erzähler der Geschichte, leidet sehr unter der neuen Familiensituation. Und auch der ein Jahr ältere Roman leidet. Aber er versucht es an sich abprallen zu lassen. Nach einem Streich à la Max und Moritz lässt der ortsansässige Polizist und eine ältliche Jugendamtmitarbeiterin die Jungs nicht mehr aus ihrem Blickfeld. Sie lauern und warten auf eine Gelegenheit, um die Jungs in ein Heim für schwer erziehbarer Jungen einzuweisen.
Die Mutter leidet immer mehr unter der Abwesenheit des Vaters, sie fängt an zu trinken und später kommen Tabletten dazu. Lange kann sie ihren Zustand nicht geheimgehalten vor den allzu neugierigen Blicken der Amtspersonen.
Und so kommt es zum Drama. Beide Jungen müssen in den Gnadenhof, ein Heim für schwer erziehbare Kinder. Dort regiert die schwarze Pädagogik. Die Erzieher stammen aus Lagern der NS-Zeit. Die Methoden ebenso. Ziel ist es, den Willen der Kinder zu brechen. Mit allen verfügbaren Mitteln: Einzelhaft, Schlägen, Spritzen.
Erinnerungen
Dieses Buch lässt Erinnerungen aufkommen. An meine eigene Kindheit in den 70er Jahren. Der Nachmittag nach der Schule, die mittags aufhörte, gehörte mir und meinen Freunden. Wir stromerten nach Herzenslust durch die Gegend, es gab keine getakteten Tage mit Musikunterricht, Englischstunden oder Therapiestunden. Lediglich an den Sportverein erinnere ich mich. Die Freiheit damals war grenzenlos. Heute als Mutter bin ich froh über die Handys der Kinder, aber ehrlich gesagt bin ich genauso froh, dass es das damals bei mir nicht gab.
Der Krieg war in den 70er Jahren in vielen Familien noch allgegenwärtig. Auch in meiner Familie wurde immer wieder darüber gesprochen. Mit einem alten Nazi kam ich selber bei meinem ersten Schülerpraktikum in Berührung. Das war damals ein echter Schock.
Erziehungsheim
Der Gnadenhof, in dem die Jungen viele Monate verbringen mussten, hatte einen guten Leumund. Nur warum kannten die Menschen in dem Ort eigentlich niemanden von dort? Warum hatte man keinen Kontakt mit den Kindern dort? Darüber machten sich Edgar und Roman erst Gedanken als sie selbst dort wohnten. Das Heim schirmte sich aus gutem Grund ab. Niemand durfte wissen, wie die Zustande dort wirklich waren. Die Eltern, die damals für ihre Kinder kämpften, hatten es schwer, gehört zu werden. Erst langsam wurden die Beschwerden wahrgenommen. Für die Kinder kam die Aufklärung zu spät. Niemand verließ so ein Heim ohne Schäden.
Dieses Buch ist nicht leicht zu lesen. Denn es läßt sich schnell erahnen, dass von der schönen Kindheit nicht viel übrigbleiben wird. Und es ist mir klar, dass es sich nicht um Fantasien des Autors handelt. Immer wieder habe ich in den letzten Jahren von den Zuständen in Heimen gelesen und dabei unvorstellbare Dinge erfahren. Daher braucht es besonderes im letzten Teil des Buches ein paar Verschnaufpausen, um sich zwischendurch mit den schönen Dingen des Lebens zu beschäftigen.
Fazit „Die wir liebten“
„Die wir liebten“ von Willi Achten ist ein Roman, in dem die Obrigkeit nicht gut wegkommt. Wer bestimmt, wie Kinder am besten leben? Wer entscheidet darüber, ob eine Kindheit gut oder schlecht ist? Welche Erziehung ist die beste für ein Kind? Diese Fragen gibt es leider in jeder Generation und auch heute gibt es dafür keine eindeutigen Antworten. Aber zumindest sind die Maßstäbe andere geworden. Dieses Buch wird wohl kein Leser so schnell wieder vergessen.
Entweder hatte ich dieses Buch schon mal auf meiner Liste stehen oder ein anderes hatte fast die selbe Thematik. Ich kann mich nicht erinnern. Aber interessant finde ich es auf jeden Fall.
In unserem großen eingemauerten Berlin, wurde nicht so akribisch auf den Nachwuchs geschaut. Unsere Freiheit war „grenzenlos“.
Liebe Grüße
Andrea
Hallo Andrea,
ja, irgendwie gab es noch ein ähnliches Buch. Komme aber auch gerade nicht auf den Titel 😉
Ich glaube aber, dieses Buch hätte überall spielen können. Es kommt halt doch immer auf die Menschen an, mit denen man zu tun hat. Und diese alten Nazis gab es immer und überall. Auch in der aktuellen Corona-Zeit kommen sie aus ihren Löchern.
Viele Grüße
Astrid