Takis Würger: Stella
Mittwoch, 23. Januar 2019
Rezension eines polarisierenden Romans
Der zweite Roman von Takis Würger handelt von der realen Person Stella Goldschlag und einem fiktiven jungen Mann, der sich 1942 in Berlin unsterblich in Stella verliebt. Das ist nicht außergewöhnlich, doch im Laufe des Buches stellt sich heraus, dass Stella, selbst Jüdin, andere Juden denunziert. Damit ist der Inhalt des Buches vorweggenommen, doch kann man dieser Enthüllung nicht entgehen, wenn man auch nur einen der zahlreichen Artikel über das Buch liest.
Der blinde Liebende
Der junge Mann, aus dessen Sicht der Roman geschrieben wird, kommt aus einem sehr wohlhabenden, aber unglücklichem Elternhaus. Sein Vater gibt ihm die Freiheit sich selbst zu verwirklichen. Dazu geht Friedrich nach Berlin und lebt dort in einem ziemlich guten Hotel. Sein Hotelzimmer bildet eine Insel in der aufgewühlten Stadt, die von Nationalsozialismus, Krieg und Mangel geprägt ist. Auf dieser Insel wird ihm gegen das nötige Kleingeld alles geliefert was sein Herz, oder später das seiner großen Liebe, begehrt. Sicher kein Zufall, dass dieser naive Jüngling, dem jede Lebenserfahrung fehlt, aus der neutralen Schweiz stammt. Er selbst versucht auch Neutralität zu bewahren.
So versucht er, dem die Wirren der Welt über das eigene Verständnis zu gehen scheinen (wir kann man sonst 1942 freiwillig nach Berlin gehen?), ebenso neutral zu bleiben und sich vor den herrschenden Zuständen zu verschließen. Nur als ein Bekannter, ein SS-Offizier, in seinem Beisein total entgleist, bezieht Friedrich Stellung, indem er wegläuft.
Er interessiert sich eigentlich nur für seine geliebte Stella, die er allerdings als Kristin kennenlernt.
Immer wieder möchte ich den Jungen schütteln und schreien: „Lauf weg!“.
Doch er verdrängt, was in der Stadt und in Europa passiert, was mit Stella geschieht und was sie macht.
Er lebt in seiner Hotelzimmerinsel und liebt.
Stella
eStella arbeitete für die geheime Staatspolizei, bis zum Kriegsende. Sie fing damit an, weil ihre Eltern eingesperrt wurden und sie angeblich freikommen würden, wenn Stella die Namen und Aufenthaltsort anderer versteckter Juden liefern würde. Dem Leser ist klar: niemals werden die Eltern entkommen. Und Stella wusste das sicher auch. Trotzdem machte sie weiter.
Wie konnte sie das tun? Ganz klar: um zu überleben.
Stella wird als eine hübsche, talentierte und lebenslustige junge Frau beschrieben. Sie scheint alle Moral von sich zu weisen, damit sie als Sängerin auftreten kann. Damit sie Spaß haben kann.
War Stella ein Monster?
Sie wollte leben und ihre Träume erfüllen. Dem ordnete sie alles andere unter. Das ist entsetzlich, aber:
Was hätte ich gemacht?
Das ist eine Frage, die ich mir immer wieder stelle, wenn ich an das Leben im dritten Reich denke.
Was hätte ich gemacht?
Hätte ich anderen Menschen geholfen, selbst auf die Gefahr hin selbst vergast, erschossen oder eingesperrt zu werden?
Hätte ich das Leben meiner Familie aufs Spiel gesetzt um anderen zu helfen? Wieviel Zivilcourage hätte ich bewiesen?
Oder wäre ich mit geschlossenen Augen durch Deutschland gelaufen und hätte später gesagt: ich wusste von nichts, wie es viele getan haben?
Quellen
Was mir sehr gut gefiel in diesem Buch waren zitierte Quellen mit Aktenzeichen die im Juristensprech Stellas Vergehen beschrieben. So wurde mir immer wieder klar: ich lese hier nicht einfach eine Liebesgeschichte. Die Verratenen waren real.
Das ist ein krasser Gegensatz zu der leicht kitschigen Liebesgeschichte zwischen Friedrich und Stella.
Ausserdem gibt es zu Beginn der einzelnen Kapitel eine Einordnung in den zeitlichen Kontext. Politik, Kultur und die Erwähnung des Schicksals bekannter Personen (z.B. Marcel Reich, der einen Artikel in der Warschauer Ghettozeitung veröffentlichte). So konnte ich die Handlung des Romans immer wieder in die richtige Zeit eingeordnen.
Hättest du zu Stella gehalten?
Das ist die Frage, die dieser Roman stellt. Hättest du das Leben anderer Menschen über deine große Liebe gestellt?
Klar, Friedrich hätte versuchen können Stella ins Ausland zu schaffen. Doch so wie Stella beschrieben wurde, hätte sie sich niemals darauf eingelassen.
Und so wie Friedrich dargestellt wurde, hätte er niemals das Standing gehabt sich gegen diese starke Frau durchzusetzen.
Nun ist Friedrich fiktiv. Auch die Stella des Romans ist fiktiv und ihrem realen Vorbild nur nachempfunden. Tatsache ist aber, das die wahre Stella überlebt hat. Nach dem, was Würger am Ende des Buches über sie erzählt, wurde sie bis zu ihrem Freitod nicht glücklich. Kein Wunder. Aber sie hat den Krieg überlebt, auch wenn sie dafür viele Menschen verraten hat.
Zumindest ich kann nicht wissen wie ich an ihrer oder Friedrichs Stelle gehandelt hätte. Kannst du es?
Literaturdebatte
Der Roman wird im Feuilleton heiß diskutiert. Es geht um die alte Frage: Darf der das? Eine verkitschte Geschichte über ein ernstes Thema schreiben? Das Schicksal einer bösen Frau als Vehikel für eine Love-Story benutzen?
Bei Perlentaucher sind einige dieser Meinungen zusammengefasst.
Ich freue mich einfach, dass es mal wieder eine angeregte, öffentliche Diskussion über ein Buch gibt. Vielleicht bringt das mehr Menschen dazu, mal wieder eines zu lesen und sich dann selbst ein Bild davon zu machen.
Fazit
Erzählerisch und spannungstechnisch empfand ich Stella von Takis Würger schwächer im Vergleich zu seinem Debüt Der Club.
Doch bringt er mich viel stärker dazu über mich und dem „Was wäre wenn“ nachzudenken. Ein gutes Buch zur Diskussion und Selbstreflektion.
Nach meinem Gefühl enthält sich der Autor mit diesem Buch einer Meinung zur Moral von Stella und Friedrich. Und genau dadurch wird der Leser dazu aufgefordert selbst Stellung zu beziehen.
Nachdem so viel über dieses Buch diskutiert wird, ist mir klar, ich muss es auch haben lesen.
Deine Rezension, hat das Verlangen nicht zurück geschraubt.
Ich bin gespannt, ob es mir gefällt.
Liebe Grüße
Andrea
Hallo Andrea,
Ich bin sehr gespannt auf deine Rezension.
Viele liebe Grüße
Silvia
Danke für deinen Beitrag! Ich bin gerade dabei, es zu lesen (bin bei ca. 2/3), und finde es bisher ganz gut, wenn auch nicht so stark wie „Der Club“. Jedoch geht ist mir der ganze Shitstorm in den Medien viel zu krass (und auch ein wenig unverständlich), weshalb ich umso froher bin, eine ausgewogene Rezension zu lesen.
Hallo Tina,
den Inhalt der Diskussion finde ich auch ein wenig unverständlich, aber Hauptsache Diskussion über Bücher. Kann nicht schaden!
Viele liebe Grüße
Silvia
Liebe Silvia,
ich hab das Buch noch nicht gelesen, aber die ganzen Diskussionen auf Twitter mitbekommen und irgendwie habe ich dadurch vollkommen die Lust verloren, dass Buch zu lesen. Was ist, wenn es mir gefällt, aber ich dann beschuldigt werde ein Buch zu mögen, welches von einem Mann geschrieben wurde, welcher laut Meinung vieler nicht das recht dazu hatte? Urgh das ist mir irgendwie viel zu viel Stress, ahh. Ich sollte da eigentlich nicht drüber nachdenken..
Alles Liebe
Julia
#litnetzwerk
Hallo Julia,
das habe ich jetzt schon häufiger gehört, dass einigen die Lust and dem Buch entgangen ist.
Dann lese doch lieber „Der Club“, falls du das noch nicht kennst.
Viele Grüße
Silvia
Eine schöne Rezension. Habe es gerade beendet und werde meine nächste Woche auf den Blog stellen. Es ist auf jedenfall ein Buch was nachklingt.
Liebe Grüsse
Isabel
Hallo Isabel,
Danke für das Lob. Dann werde ich nächste Woche mal lesen, was das Buch bei dir ausgelöst hat.
Viele Grüße
Silvia
Hallo Silvia!
Eine wirklich interessante Rezension, die mich definitiv neugieriger auf das Buch gemacht hat. Die Diskussionen drumherum haben mich bisher eher abgeschreckt, es war einfach zu viel. NUn jedoch denke ich mir, ich sollte einfach selbst zu diesem Buch greifen und die Stella kennenlernen, die Takis Würger ins Leben gerufen hat. Danke dafür!
Liebe Grüße,
Gabriela vom Buchperlenblog
Hallo Gabriela,
Dieses Buch habe ich vor den Diskussionen gelesen und bin deshalb ganz unvoreingenommen daran gegangen.
Ich bin gespannt, wie es da weitergeht, es gibt schon rechtliche Schugegen Verlag und Autor.
Kauf das Buch mal schnell, bevor es nur mit geschwärzten Stellen angeboten wird.
Viele Grüße
Silvia
Liebe Silvia,
uff, was für ein schwieriges Buch. Ich habe schon einiges über die Literaturdebatte mitbekommen, sowohl was das Feuilleton angeht als auch auf Blogs. Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich das Buch (mit dieser Thematik) jemals lesen kann. Dennoch ist es natürlich spannend, Meinungen zu dem Buch zu lesen.
Vielen Dank für deine ruhige Besprechung!
Jennifer
#Litnetzwerk
Hallo Jennifer,
Erst habe ich mich über die Diskussion über das Buch gefreut, jetzt wird es mir aber fast zu viel.
Ich bin auf der anderen Seite doch gespannt wie es weiter geht.
Viele Grüße
Silvia