Ariane Koch: Die Aufdrängung
Sonntag, 16. Januar 2022
Debütroman, nominiert für den Bloggerpreis
Frau nimmt einen Fremden, den „Gast“ bei sich auf. Sie bewohnt ein großes Haus mit zehn Zimmern und überlässt ihm eines. Die Frau bleibt namenlos, nennen wir sie Gastgeberin. Das Verhältnis zwischen den beiden bleibt sehr ambivalent. Wer drängt sich hier wem auf?
Dieser Roman steht auf der Shortlist für den Bloggerpreis für das beste Debüt des Jahres 2021, ausgelobt vom Blog Das Debüt.
Wer ist der Gast?
Ein Fremder im Ort. Ein Migrant? Ein Obdachloser? Stammt er aus einem anderen Land? Spricht er dieselbe Sprache? Manchmal nicht, manchmal doch. Im Roman finde ich immer wieder Fragen, weniger Antworten. Immer wenn ich denke ich habe es begriffen, entgleiten mir die Protagonisten wieder.
Ein Gast zu sein, oder einen Gast zu beherbergen, ist ein Konzept, dass es in allen Kulturen gibt. Zwei Menschen, die sich nicht kennen und zueinander finden. Sie nähern sich immer mehr aneinander an. Es gibt dann Momente starker Nähe, auch körperlich, aber sie driften auch immer wieder auseinander. Mal drängt sich der Gast, mal die Gastgeberin auf. Die Aufdrängung ist also beidseitig.
Episoden
Der Roman verfolgt keine stringente Handlung. Er ist eher die Aneinanderreihung von einzelnen Episoden. Manche Abschnitte umfassen nur einen Satz, andere gehen über mehrere Seiten.
Aber eine Entwicklung der Personen und der Beziehung des Gastes und seiner Gastgeberin ist immer erkennbar. Nichts bleibt, es gibt eher ständige Veränderung.
Wie kann ich ihn konturieren, wenn er stets in Bewegung ist? Wie soll ich ihn festzuhalten im Stande sein, wenn er im Zerfließen begriffen ist?
Auch die Gastgeberin verändert sich ständig, macht starke Entwicklungen durch. Zum Beispiel hat sie Anfangs eher einen Putzfimmel, am Ende versinken Haus und Garten im Chaos.
Sie stellt auch ein Regelwerk für das Zusammenleben auf, doch verändern sich diese Regeln schon während sie aufgeschrieben werden.
Humor
Bei allen Herausforderungen die sich mir durch die Lektüre des Buches bieten ist Die Aufdrängung durchaus auch ein humorvolles Buch. Zum Teil durch die Absurdität die immer wieder aufblitzt. So gibt es eine Art Staubsaugerrüsselballett, einen Zierfischfriedhof, lange Schlangen von Menschen die ebenfalls Gast sein möchten vor dem Haus.
Namen
Wenn ich mich richtig erinnere gibt es im gesamten Roman nur zwei Personen mit Namen Laurenz, der Freund aus der Kindheit und Carla. Alle anderen bleiben Namenlos. Die Gastgeberin selbst bleibt namenlos. Das spricht meiner Ansicht nach dafür, dass es hier um Identitätsfindung geht.
Der Gast bleibt einfach „der Gast“. Andere Personen werden mit ihrer Funktion benannt: der Kellner in der nahegelegenen Bar, die Eltern, die Geschwister.
Apropos Familie. Normalerweise beschweren sich Eltern, wenn die Kinder zu lange zu Hause wohnen bleiben. Nicht so die der Gastgeberin: sie ziehen selbst aus und lassen die Tochter zurück. Sie verbleibt in dem großen Haus mit den Löwenstatuen an der Einfahrt. Dort lebt sie in der ständigen Angst, ihre Geschwister könnten sie aus diesem Haus vertreiben und es selbst beanspruchen. Andererseits wünscht es sich die Gastgeberin das fast, sie hat schon längst alles in Kartons verpasst und träumt immer wieder davon das Haus und die Kleinstadt zu verlassen. Auch der Gast versucht sie zum Ausziehen zu bewegen:
Der Gast sagt: Du musst dieses Haus verlassen, denn dieses Haus gehört seinen Eltern, gehört deinen Geschwistern, gehört nicht dir und überhaupt bist du schon viel zu lange in diesem Haus.
Worum geht es?
Identitätsfindung? Erwachsenwerden? Loslösen von der Heimat, der gewohnten Umgebung? Überwindung der Angst, in ein eigenes, autarkes Leben zu spazieren? Willkommenskultur? Fremdenintegration?
Manchmal fragte ich mich auch: ist der Gast überhaupt ein Mensch? Seine Behaartheit wird immer wieder hervorgehoben, auch das Cover zeigt ein Tier. Es gibt auch Szenen, in denen er seine Gastgeberin verfolgt, wie ein Hund, der sein Frauchen auf Schritt und Tritt folgt. Ich glaube, dass der Text viel Freiraum für eigene Interpretationen zulässt.
Meine Interpretation
Ich sehe den Gast als eine Depression. Es gibt Hochs und Tiefs. Am Ende befreit sich die Gastgeberin davon. Der Gast packt seine Plastiktüten und geht. Das gibt ihr so viel Kraft, sich selbst von der erdrückenden Enge der Kleinstadt zu entledigen und schafft es selbst zu gehen. Wird selbst zum Gast in einem fremden Land. Sie macht sich frei und dreht die Rollen um. Irgendwo im Buch steht auch, der Mensch sei zum Reisen gemacht. Das verwirklicht sie für sich. Gerne würde ich mit der Autorin meinen Ansatz mal diskutieren.
Die Autorin
Ariane Koch wurde 1988 geboren. Sie machte Ihren Bachelor in bildender Kunst, den Master in Interdisziplinarität. Sie lebt in Basel und Berlin und schreibt gerne in Badeanstalten.
Die Audrängung ist ihr erster Roman, aber sie hat bereits Theater-, Performancetexte geschrieben und zur Aufführung gebracht. Eine Lesung aus dem Roman findest du auf der Verlagsseite. Ebenso ein Video, in dem sie über ihren Roman Die Aufdrängung spricht.
2021 gewann sie den Aspekte Literaturpreis.
Ihr Debütroman steht auf der Shortlist für den Bloggerpreis für das beste Romandebüt 2021, ausgelobt vom Blog Das Debüt.
Fazit
Die Aufdrängung von Ariane Koch ist ein anspruchsvoller, sprachlich sehr ungewöhnlicher Roman. Er bietet viel Interpretationsspielraum und auch Raum für Diskussionen, zum Beispiel in einem Lesekreis. Ich als Leserin musste mich erst öffnen für diese Sprache, diesen Stil. Ich schätze Bücher, die meinen Geist beschäftigen.
Lust auf mehr Debütromane?
Fünf Debütautor*innen wurden für die Shortlist des Bloggerpreises vom Blog das Debüt nominiert. Neben Ariane Koch sind es folgende:
Sharon Dodua Ottoo: Adas Raum
Thomas Arzt: Die Gegenstimme
Jessica Lind: Mama
Stefanie von Schulte: Junge mit schwarzem Hahn
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Hallo! Ich mochte sehr, dass die Besprechung auch Interpretationsversuche enthielt. Eine sehr schöne Rezension – ich hatte ja als Vorschlag den Gast als das Fremde schlechthin zu lesen, das, was sich noch nicht in das Muster des eigenen Alltags unsichtbar gemacht hat. Also altmodisch gesagt, das Nichtidentische, im Sinne einer begrifflichen Vereinnahmung noch nicht Eingenommene. Ich habe das Buch sehr gemocht, und drücke die Daumen für Ariane Koch! Viele Grüße!
Hallo Alexander,
Das ist auch eine mögliche Interpretation. Ich finde es sehr schön, wenn Bücher so viel Spielraum bieten.
Alles Gute
Silvia