Christina Dalcher: Q und VOX
Sonntag, 13. Februar 2022
Zwei dystopische Romane
Die US-Amerikanerin Christina Dalcher hat mehrere dystopische Romane geschrieben. Der erste, VOX, erschien auf Deutsch bereits 2018, der zweite, Q, im Jahr 2021. Sie sind unabhängig voneinander zu lesen. Sie spielen in unterschiedlichen, möglichen zukünftigen Welten. Allerdings sind die Romane relativ technologieunabhängig, sie könnten also auch schon in der Gegenwart angesiedelt werden.
Ihr nächstes Buch „Femlandia“ ist im englischsprachigen Raum bereits erschienen. Ich rechne damit, dass es im Herbst 2022 auf Deutsch veröffentlicht wird.
VOX
In diesem Roman werden Frauen mundtot gemacht. Sie dürfen nur noch 100 Wörter am Tag sprechen. Egal wie alt sie sind und welchen Beruf sie (vorher) ausübten. Das heißt die Regel gilt auch für Kinder. Ihnen wurde ein Armband aufgezwungen. Es zählt die Worte und verteilt Stromstöße, wenn die Maximalanzahl erreicht ist. Alles geht auf die Bewegung „der Reinen“ zurück. Das Buch spielt in den USA. Nur hier gelten diese absurden Regeln. Flucht ist kaum möglich, da natürlich auch die Pässe aller Frauen eingezogen werden.
Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht von Dr. Jean McClellan. Erst ist sie eine erfolgreiche Wissenschaftlerin, plötzlich nur noch Hausfrau ohne Rechte. Ihr Mann Patrick steht zu ihr, kann aber auch nicht helfen. Sie haben zwei Kinder, die kleine Sonia, früher aufgeweckt und fröhlich, jetzt in sich gekehrt und verstummt. Dann noch der Teenager Steven, der die Tragweite und Dramatik nicht erkennt und durch die Gesellschaft indoktriniert wird.
Haarsträubend! Bis Jean gebraucht wird, als der Präsident ein Problem hat, für das männliche Spezialisten fehlen…
Das Buch hat mich sehr beeindruckt und gefesselt. Leider driftet es am Ende zu sehr in Actionhandlungen ab. Aber allemal ist es spannend und lesenswert.
Interessant auch, dass Dalcher in einem Interview erzählt, dass sie das Buch nicht geschrieben hat um Unterdrückung von Frauen aufzuzeigen, sondern „die Abhängigkeit der Menschlichkeit von Sprache.“ Genauer gesagt
Wie essentiell ist das Geschenk der Sprache, dieses erstaunlich komplexen Vermögen, das wir so oft als selbstverständlich betrachten, für unsere Existenz.
Q
Hier wird der Wert der Menschen (auch wieder in den USA) in einem Wert gemessen, dem Q-Wert. Damit werden Intelligenz und Einkommen gemessen. Der Q-Wert ist das alleinige Entscheidungsmerkmal über Bildungschancen von Kindern. Je höher der Q-Wert, je besser die Schule auf das Kind gehen darf.
Die Familie
Auch hier geht es wieder um eine Familie, der Roman ist aus der Sicht von Elena Fairchild geschrieben. Mutter zweier Töchter und selbst Lehrerin an einer Eliteschule. Ihre kleine Tochter ist dem Druck nicht gewachsen und besteht den regelmäßigen Test nicht. Sofort fliegt sie aus der guten Schule und wird in ein „Internat“ gesteckt und darf ihre Familie nur noch einmal im Jahr besuchen. Elena ist klar: das wird ihre kleine sensible Tochter nicht überstehen.
Ihr wird auch klar, wie perfide das System ist: jede/jeder, der nicht in die Norm passt, wird durch einen geringeren Q-Wert abgestraft. Zum Beispiel auch Homosexuelle. Die Berufschancen von Absolventen der schlechteren Schulen sind miserabel.
Der Ehemann
Elenas Mann steht voll hinter diesem System. Nicht der einzige Grund, aus dem die Beziehung zwischen dem Paar sehr abgekühlt ist. Im Laufe des Romans kommt auch heraus, wie es überhaupt zur Heirat kam. Eine Scheidung ist für Elena aber nicht möglich. Denn da ihr Mann Malcolm einen höheren Q-Wert (durch den besseren Job mit viel höherem Gehalt) hat, würden ihm die Kinder zugesprochen werden. Das will sie den zwei Mädchen auf keinen Fall antun.
Die meisten Männer gelten als die wertvolleren Elternteile, auch wenn sie es gar nicht wert sind.
Story
Auch hier fängt das Buch ruhig an. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden durch das Familienleben erklärt. Doch das Buch nimmt immer mehr Fahrt auf, recht dramatische Ereignisse folgen noch.
Die politischen Macher in diesem Land sind Anhänger der Pseudowissenschaft „Eugenik“. Diese „Erbgesundheitslehre“ war auch schon im Nationalsozialismus sehr beliebt. Ich dachte bisher, sie wäre sogar dort erfunden worden, aber das stimmte nicht. Es gab auch schon im 19 Jahrhundert solche Bestrebungen. Die Hintergründe werden im Roman anschaulich erklärt.
Parallelen
Ich will jetzt nicht behaupten, dass unser Schulsystem dem dort beschriebenen gleicht. Aber auch bei uns haben Kinder, die mit Druck und Stress nicht gut umgehen können, wenig Chancen, vor allem, wenn sie nicht ständig unterstützt werden. Auch unser Schulsystem ist eine Art Dreiklassensystem. Es ist nicht einfach eine Schiene, die durch die Gesellschaft für ein Kind gelegt wurde, zu verlassen.
Auch bei uns (auch schon vor Covid-19, wodurch die Situation für Schüler sich sowieso sehr verschlechtert hat) wird oft Perfektion von Kindern erwartet. Es gibt nur wenig Möglichkeiten individuelle Talente auszubauen. Jedes Kind ist in irgendetwas gut. Doch z.B. soziale Kompetenz wird kaum gewürdigt. Ja, man kann sich auf dem Gymnasium einen LK aussuchen, aber Kinder, die z.B. ein großes Matheproblem haben, werden das Abi kaum schaffen. Auch nicht, wenn sie Sprachgenies sind.
In Q wird das alles noch total auf die Spitze getrieben. Wer es schafft, auf eine Eliteschule zu kommen und dort zu bleiben, muss andauernd nur lernen, um dort auch bleiben zu können, weil die Anforderungen unglaublich hoch sind. Individualität ist nicht erwünscht. Du brauchst die richtigen Freunde, Eltern, Geschwister um bestehen zu können. Gruselig.
Im Original heißt das Buch übrigens „Masterclass“, auch ein sehr passender Titel.
Noch ein Zitat von Christina Dalcher, es stammt aus dem in meinem Exemplar von VOX abgedrucktem Interview:
Wie schnell kann sich die Welt verändern, wenn wir nicht aufpassen.
Das haben wir in den letzten beiden Jahren wohl alle lernen müssen.
Fazit
Die dystopischen Romane von Christina Dalcher sind spannend. Wobei mir VOX noch besser gefiel als Q.
Literarisch kommen sie an Margret Atwood (z.B. in Report der Magd) nicht heran, trotzdem sind sie lesenswert.
Die Romane laden mich ein, die dortigen Missstände auf unsere Gesellschaft zu projizieren. Daher bringen sie mich auch zum Nachdenken, was ich an Büchern sehr schätze.
Wir sollten auch aufpassen, dass sich unsere Welt nicht in solche Richtungen verändert.
Weitere dystopische Romane
Fahrenheit 451 von Ray Bradbury
Macht von Karen Duve
Klara und die Sonne von Kazuo Ishiguro
Schatten über den Brettern von David Misch
Hallo liebe Silvia,
ja, dass sind zwei Romane, die zeigen wie einfach Mann/Männer mit uns Frauen umgehen kann.
Interessanterweise spielen solche Geschichten immer in den USA
….einem Land das doch so „frei ist“ …….und überall für die Freiheit , der anderen auf der Welt kämpfen mag….
Auch eine interessante Lesereihe….Schattenkinder … von Margaret Peterson Haddix.
Da dürfen Frau nur noch zwei Kinder auf die Welt bringen…..Ähnlich wie in China ….
Vielleicht ja auch schon bekannt…
LG…Karin..
Hallo Karin,
vielen Dank für den Buchtipp, das kenne ich noch nicht.
Alles Gute
Silvia
Huhuuu, hab euren Blog erst mal in meinen Feedly Reader gepackt, keine Ahnung, warum ihr dort noch nicht wart …
Bei VOX weiß ich noch da mir das Ende auch nicht so zusagte, ebenso die Liebesgeschichte. Ansonsten hat mich die Geschichte auch gefesselt und es ging an mir vorüber, dass es einen weiteren Titel der Autorin gibt. Durch deine Beschreibungen hast du mich sehr neugierig gemacht und ich behalte das Buch mal im Hinterkopf.
Muckelige Grüße!
Hallo Janna,
schön, dass du uns folgen magst.
Ich habe bei Q mal wieder bemerkt, wie gerne ich Dystopien lese und freue mich schon auf das nächste Buch von Ch. Dalcher.
Liebe Grüße
Silvia