Michael Magee: Close to Home
Sonntag, 15. Oktober 2023

Belfast is still in trouble
Sean ist Anfang 20 und lebt in West-Belfast. Er hat studiert und einen Abschluss in Literaturwissenschaft. Sean ist der Erste aus seiner Familie, der zur Uni ging. Nach dem Studium in Liverpool kam er zurück nach Belfast und weiß nicht recht was er jetzt mit seinem Leben anfangen soll.
Sean
Dieser Protagonist kommt zu Beginn nicht gerade sympathisch rüber. Direkt im ersten Absatz des Buches schlägt er jemanden krankenhausreif. Sean säuft, kifft und raucht. Er wohnt mit einem Kumpel in einer besetzten Bruchbude, hält sich mit Aushilfsjobs in Pubs über Wasser. Die Mutter kann ihm nicht helfen, sie hat selbst kaum Geld. Seinen Vater hat er schon lange nicht mehr getroffen.
Sean wirkt wie ein „typischer“ Versager, ein Looser. Damit passt er sich seiner Umgebung gut an. Alle seine Freunde haben keinen Job, sind ständig betrunken und konsumieren Drogen.
Keiner sieht eine Perspektive, da hilft Sean auch sein Studienabschluss nicht weiter.
Sean macht eine unglaubliche Entwicklung durch. Doch er erleidet auch immer wieder Rückschläge. Sich selbst immer wieder aus dem Sumpf zu ziehen erfordert einen starken Charakter und ein passendes Umfeld, wie das Buch deutlich zeigt.
Gewalt
Ich habe zugelangt und getroffen, und er ist umgefallen.
Sean hat auf einer Party einen anderen jungen Mann k.o. geschlagen. Der Gegner kommt ins Krankenhaus, Sean muss seine Personalien bei der Polizei angeben.
Eine große Sache ist das für ihn erstmal nicht. Doch irgendwann wird er deswegen angeklagt. Nach dem ersten Absatz des Buches dachte ich, Sean ist ein Schläger. Erst später wird erklärt, dass er von seinem Naturell her Gewalt lieber aus dem Weg geht.
So lernte ich immer wieder andere Seiten von Sean kennen. Seine Motive werden immer deutlicher.
Ich habe so gehofft, dass er es schafft, einen guten Weg für sein Leben zu finden. Doch es gibt immer wieder Rückschläge, die zum Teil auch den Verhältnissen in der Nordirischen Gesellschaft geschuldet sind.
Mairéad
Dann trifft Sean auf eine alte Schulfreundin, Mairéad. Sie verkehrt in anderen Kreisen. Ihre Bekannten rekrutieren sich aus Studenten der Queens University in Dublin. Sie sind Autoren, Künstler, Menschen mit Aussichten. Dort fühlt sich Sean nach einigen Anlaufschwierigkeiten wohl. Er träumt davon wieder zur Uni zu gehen, vielleicht Autor zu werden, oder zumindest einen Kurs im „Creative Writing“ zu besuchen.
Zwischen ihm und Mairéad entwickelt sich was, doch sie verlässt Belfast. Trotzdem hat sie einen starken Einfluss auf ihn. Sie ist wie der Engel auf einer Schulter, auf der anderen sitzt sein alter Kumpel Ryan, der den Teufel als Gegenpart gibt.

Teufelskreis
Sean unternimmt immer wieder Versuche sich aus dem Sumpf der Armut und der Gelegenheitsjobs zu ziehen. Ganz nach dem Motto: die Hoffnung stirbt zuletzt. Er bewirbt sich in einer Buchhandlung, schreibt ein paar Geschichten und reicht sie bei Zeitschriften ein. Doch ganz ohne Geld gehört er einfach nicht dazu, oder bildet sich das zumindest ein.
Sobald er wieder auf seine alten Freunde trifft, stürzt er sofort ab. Als ob er in verschiedenen Umgebungen jeweils ein anderer Mensch ist. Er wirkt zerrissen, sucht seinen Weg. Allerdings liegen viele Hindernisse auf dem Pfad, den er gerne gehen möchte. Bei den Jobs wird er für jedes „Vergehen“ sofort gefeuert. Schließlich gibt es ja genügend neue Bewerber, die vielleicht für noch weniger Geld schuften werden. Manchmal baut er auch echt einfach Mist. Meistens, wenn Alkohol im Spiel ist. Eine richtige Wohnung findet er ohne festes Einkommen natürlich auch nicht.
Seine Mutter versucht wirklich ihn zu unterstützen. Doch die Familie hat auch ihre Probleme und Geheimnisse, zum Beispiel, warum sein älterer Bruder Anthony selbst immer wieder am Leben scheitert.
Familiengeheimnisse
Die Hintergründe für den Absturz des Bruders werden nach und nach klar. Irgendwann versteht Sean, warum Anthony so labil ist und warum Seans leiblicher Vater die Familie damals so plötzlich und endgültig verlassen hat.
Der Vater hat übrigens Geld und eine neue Familie. Sean fängt an, seine Halbschwester über soziale Medien zu beobachten und träumt von einem anderen Leben, hätte ihr Leben auch seines sein können?
Sean wird verurteilt und bekommt unter anderem soziale Arbeit aufgebrummt. Dabei lernt er einen zwielichtigen Typen kennen, der wohl mal ein Attentat auf Seans Vater verübt hat. Doch so ganz kommt er nicht dahinter. Über so etwas wird nicht offen gesprochen.
Troubles
Dieses Jahr machte ich eine Reise rund um Irland. Dabei waren wir nicht nur in der Republik, sondern auch in Nordirland. In Derry/Londonderry und auch in Belfast haben wir an Führungen teilgenommen, die die politische Situation in Nordirland zum Thema hatten. In Derry hat uns ein Augenzeuge vom Bloody Sunday erzählt, in Belfast haben wir die typische Taxi Tour entlang der Murals unternommen. Unser Taxifahrer hat Jahrzehnte eines der schwarzen Taxis gefahren, die auch im Buch häufig erwähnt werden. Beide Guides waren Katholiken und haben uns erklärt, dass die Gewalt zwischen den Parteien nicht nur in der Religion begründet sind. Vielmehr ging es um Ungerechtigkeiten und sozialen Unterschiede. So war es Katholiken kaum möglich einen gut bezahlten Job zu bekommen, selbst wenn sie dafür qualifiziert waren. Das Wahlrecht zum Beispiel war auch unfair. So hatte jedes Haus eine Stimme. Die Katholiken in den Arbeitervierteln wohnten aber oft mit mehreren Familien in einem Haus. Trotzdem hatten sie zusammen nur eine Stimme bei der Wahl. Diese systematische Unterdrückung war es, wogegen protestiert wurde.
Volunteers
In Nordirland wurden wir an jeder Ecke an die IRA und ihre bekannten Mitglieder erinnert. Wenn jemand beitrat, war er ein „Volunteer“, also ein Freiwilliger. Überall gibt es „Murals“, große Wandbilder, die an die bekannten Gesichter erinnerten. Für den einen Teil der Bevölkerung handelt es sich um Helden, für den anderen Teil um Terroristen.
Bei unserer gebuchten Taxitour in Belfast stand in der Beschreibung, dass wir auch die Wandbilder auf der anderen Seite der Mauer (ja, die Stadt ist geteilt) ansehen. Paddy, unser Fahrer, ist auch durch diese Viertel gefahren. Doch er hielt nicht an, erklärte nichts, bekam nur einen sehr verkniffenen Gesichtsausdruck. Später erklärte er noch, dass es dort für ihn einfach nicht sicher sei.
Der Nordirlandkonflikt ist nicht gelöst, sondern köchelt unter der Oberfläche weiter. Und die Verhältnisse die Magee hier schildert, könnten auch dazu führen, dass er wieder ausbricht. Die Guides verglichen die Situation immer wieder mit denen der Palästinenser und Israelis. Ich kann nicht beurteilen ob dieser Vergleich standhält, aber dort ist alles diesen Herbst eskaliert, dort herrscht jetzt wieder ein entsetzlicher Krieg.

Heimat
Das Buch ist auch ein Roman über Belfast. Viele wollen dort nur weg, wie zum Beispiel Mairéad, die es ausgerechnet nach Berlin, einer ehemals geteilten Stadt, verschlägt. Irland war schon immer ein Auswanderungsland, ein Freund von Sean geht beispielsweise nach Australien. Andere können sich nicht vorstellen aus Belfast fortzugehen. So auch Sean, der ja aus Liverpool zurückgekehrt ist. Er möchte unbedingt in seiner Heimatstadt glücklich werden. Also „close to home“, denn er ist eindeutig noch nicht angekommen, er ist dort noch nicht Zuhause, er hat seinen Platz im Leben noch nicht gefunden. Doch die Bindung an Belfast ist nicht zu lösen.
Das zeigt sich auch in einer kleinen Szene im Buch: ein Google-Street-View-Auto nimmt Mairéad und Sean auf der Straße auf. Doch nach der Aktualisierung der Bilder in der entsprechenden Anwendung wurden sie nicht verpixelt, sondern herausgeschnitten. Sie wurden ignoriert, übersehen.
Fazit
Close to home ist der realitätsnahe Debütroman von Michael Magee. Die Gesellschaftsverhältnisse in Nordirland werden nach meinen Urlaubserfahrungen passend beschrieben. Einige der Hintergründe für die sozialen Unterschiede werden gekonnt dargestellt. Ein intensiver Coming of Age Roman, der trotz allem was dort schief läuft, auch eine Liebeserklärung an Belfast ist.

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