Anna Neata: Packerl
Sonntag, 3. September 2023
Familienroman
Dieser Familienroman umspannt ca. 80 Jahre, von den 1940igern bis 2022.
Dabei sind die verschiedenen Zeitebenen miteinander verwoben. Es gibt den Haupterzählstrang, der sich von 1999 bis 2022 zieht, dieser wird immer wieder unterbrochen von dem Erzählstrang, der sich mit der Geschichte der Familie und der drei Frauen die im Mittelpunkt stehen beschäftigt. Durch einige Parallelen im Leben der Frauen wird alles fein miteinander verwoben.
Der Überblick wird von einer Darstellung des Zeitstrahls zu Beginn des Buches erleichtert, obwohl ich auch so ganz gut klarkam. Trotzdem interessant diese Struktur als Inhaltsverzeichnis zu betrachten.
Das Foto zeigt einen Auszug daraus:
Wie man sieht, werden oft Jahreszeiten und Wetterphänomenen (Schafskälte, Hundstage, Eisheilige) als Überschriften angegeben, das hat sicher eine tiefere Bedeutung, die sich mir aber nicht unbedingt erschlossen hat.
Elli
Elli ist die Mutter von Alexandra, die wiederum die Mutter von Eva ist. Das Buch setzt bei einem Familientreffen 1999 ein. Die wichtigsten Personen des Buches lernt man dabei direkt schon mal kennen. Und auch den geheimnisvollen Spiegel, dessen Existenz sich auch durch das Buch zieht. Aus diesem „Prolog“ geht es zurück ins Jahr 1942. Elle ist auf dem Weg zu einer BDM-Versammlung. Das dritte Reich lässt grüßen. In der nächsten Szene ist der Krieg vorbei und Elli lernt einen Mann kennen.
Dieses Erzählmuster zieht sich durch das gesamte Buch. Anhand einiger Szenen und wichtiger Ereignisse, wird der Zeitgeist und auch die Motivation der Handelnden beschrieben und geklärt. So verliert sich die Autorin nicht in unwichtige Einzelheiten, sondern konzentriert sich auf die wichtigen Weichen im Leben der Frauen.
Weitere sehr wichtige Person ist Ursel, die Schwester von Elli. Die zwei haben ein sehr komplexes Verhältnis zueinander.
Sie stöhnten sich die schwere Last von dem Hass zwischen den zwei Schwestern heraus, der kein reiner Hass war, der eine Geschichte des Aufeinanderlauerns war.
Alexandra
Sie ist die Tochter von Elli und Evas Mutter. Ihr Packerl ist die Beziehung zum Vater. Und vielleicht auch die Beziehung zu ihrem Jugendfreund Hannes. Die beiden verbindet eine nicht ausgesprochene Liebe, diese ergibt eine Art Klammer um ihrer beider Leben und bekommt am Ende noch eine für mich unerwarteten Spin.
Man muss ja auch wissen, wann es vorbei ist. Denn es war ja so gewesen, je mehr ihr Herz für ihn geklopft hatte, umso weniger hatte sie es gespürt. So ehrlich musste man sein.
Alexandra ist vielleicht die stärkste der drei Frauen. Sie macht keine halben Sachen und trifft auch harte Entscheidungen, ohne Rücksicht auf andere.
Männer
Das Buch beinhaltet ein kleines Personenregister, dort stehen nicht nur Frauen, sondern auch die dazugehörigen Männer. Diese sind für die Handlung natürlich nicht ganz unwichtig, kommen aber nicht wirklich zu Wort. Sie werden auch nicht verteufelt, aber manchmal war es halt auch schwer mit ihnen. Diese Erfahrung haben die Frauen in allen drei Generationen gemacht. Jede auf ihre Art. Und ohne Mann ging es irgendwie auch nicht. Obwohl auch weibliche Partnerinnen im Buch vorkommen. die es aber auch nicht ging. Egal ob Freunde, Ehepartner, Liebhaber.
Eva
Vor allem Eva trägt auch dieses spezielle Packerl Depression, welches bei ihr sich zum schweren Paket mausert und viele Klinikaufenthalte nach sich zieht.
Auch ihre Mutter empfindet das selbst als eine Art Bürde, weil sie so hilflos ist. Depressionen lassen sich halt nicht durch die Mutter vertreiben. Auch ich kenne dieses hilflose Gefühl, wenn ich als Mutter meinem Kind nicht helfen konnte (auch wenn meine Kinder ihre eigenen Probleme haben). So fand ich interessant, dass ich mich zwar in den Passagen, die von Alexandra handeln, mich nicht mir ihr gemein machen wollte, aber mich durchaus in Evas Leben mit der Mutterrolle von Alexandra identifizieren konnte.
Spannend empfand ich Evas Leidenschaft für Fotografie. Sie hatte mal das Ziel alle Menschen, die ihr begegnen zu fotografieren und wird so zu einer Art Chronistin der Familie. Was nicht gelingen kann, da es zu viel Unausgesprochenes gibt.
Evas Inneres erschloss sich mir nicht so gut, obwohl sie auch viel Raum einnimmt. Vielleicht liegt das wirklich daran, dass ich immer mehr über ihre Mutter, als über Eva selbst nachgedacht habe.
Insgesamt ist die Familie sehr komplex, ich habe das Gefühl, das einige der Gründe für die Lebensprobleme von Eva auch darin begründet liegen könnten.
Österreich
Hier in Deutschland sind viele Autorinnen und Autoren aus Österreich recht populär. Bei einigen empfinde ich keinen Unterschied zu deutschen Büchern. Andere wiederum betonen die Andersartigkeit des Alpenlandes sehr. Dieses Gefühl hatte ich hier auch. Das empfinde ich nicht als störend, eher interessant.
So werden auch häufig politische Anspielungen gemacht, immer wieder wird auf österreichische Politiker Bezug genommen. Da diese nicht unbedingt mit Namen genannt werden, musste ich einige Male recherchieren, wer gemeint ist. Auch die dunklen Geheimnisse der NS-Zeit werden angesprochen, aber nicht wirklich gelüftet. So wie das hier in Deutschland auch lief.
Neata nutzt eine Menge österreichischer Ausdrücke und Formulierungen, wie es sich schon im Titel andeutet. Viel wird verniedlicht, zum Beispiel eben durch diese Endung „erl“. Auch in der wörtlichen Rede wird viel das „eh“ genutzt, das ich auch aus Urlauben in Österreich kenne. Dieses kleine Wörtchen scheint mehrere Bedeutungen zu haben. Nicht nur das in Deutschland bekannte „sowieso“.
Manchmal frage ich mich, ob sie die Österreicher dadurch bewusst vom deutschen Roman abgrenzen möchten, oder ob das gar nicht bewusst geschieht.
Wie gesagt, es stört mich nicht, einige Sätze (vor allem in der wörtlichen Rede) musste ich mehrmals lesen und war mir dann über den Unterton der Sätze immer noch nicht ganz im Klaren. Das führte dazu, dass ich aufmerksamer lesen musste, was ja kein Nachteil ist.
Packerl
Jeder hat sein Päckchen zu tragen heißt es auch bei uns. Oft weiß man ja gar nicht, womit sich die Mitmenschen herumschlagen müssen. Depression ist ein Thema im Buch, Eva ist da nicht die Erste, die darunter leidet:
Alexandra erzählt von der Urgroßmutter, der Margaretha, immer mit diesem melancholischen Blick um die Augen, mit einer Traurigkeit, mit dem, was man heute Depression nennt und wo man gleich einen Seelenklempner aufsuchen muss, aber damals war es eben das Packerl gewesen, das man zu tragen gehabt hat.
Einige „Packerl“ sind unerwünschte Kinder, diese werden durch Abtreibungen beseitigt. Vieles wird nur angedeutet, die eigentlichen Vorgänge werden nicht explizit beschrieben. Das passt zu den Gesprächen zwischen den Menschen im Buch, die auch nur selten wirkliche Aussprachen sind. Vieles bleibt ungesagt, mit der Erwartungshaltung, der Gegenüber wird es schon verstehen.
Das geht natürlich nicht gut und kulminiert meiner Meinung nach in Evas schwerer Depression. Doch ich kann das nicht wirklich beurteilen.
Dieses „zwischen den Zeilen“ gefiel mir ganz gut, auch wenn ich befürchte, dass auch ich einiges dadurch vielleicht nicht verstanden habe.
Fazit
Packerl von Anne Neata ist ein interessant aufgebauter Familienroman, der die letzten 80 Jahre anhand wichtiger Stationen im Leben von drei Frauen beschreibt. Dadurch werden die drei Generationen schön miteinander verbunden. Auch wenn die Frauen sich irgendwie eher voneinander abgrenzen und oft auch entfernen.
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