Rezension: Monster von Yishai Sarid
Sonntag, 10. Februar 2019
Umgang mit dem Gedenken an den Holocaust
Ein israelischer Historiker verdient sein Geld damit vor allem jüdische Gruppen durch verschiedene polnische Konzentrationslager zu führen. Die intensive Beschäftigung mit dem Holocaust und der Reaktionen die Besucher führen zu einer Eskalation. Das Buch ist ein Bericht an seinen Vorgesetzten um das Geschehen zu rechtfertigen.
Das Ende
Im Klappentext wird das Ende des Buches vorweggenommen. Der israelische (namenslose) Tourguide schlägt einen Dokumentarfilmer aus Deutschland in Treblinka nieder. Ich möchte noch einen draufsetzen und den letzten Satz des Buches zitieren:
Ich musste das tun.
Wenn ich auch sonst keine Freundin von vorweggenommenen
Spannungsmomenten bin, wird in diesem Buch die Spannung erst dadurch, dass man
das Ende kennt, aufgebaut. Das ganze Buch ist ein Bericht des Guides an den
Direktor des Yad Vashem. Nicht direkt sein Vorgesetzter, aber doch eine
mächtige Person, die ihn zum Teil protegierte und auch einige Jobs verschafft
hat.
Diese Erklärung beginnt damit, wie er zur Holocaustforschung kam. Wohl das
einzige Gebiet, mit dem ein Historiker in Israel seinen Lebensunterhalt
beschreiten kann.
Wie konnte es zu dieser Gewaltexplosion bei dem bis dahin doch recht ruhigen
Familienvater und Historiker kommen?
Holocaust-Gedenken
Der junge Historiker bekommt das Angebot Schülergruppen durch Areale ehemaliger Konzentrationslager zu führen. Viele israelische Schülergruppen fahren für ein paar Tage nach Polen um dort den Opfern zu gedenken und den Holocaust vor Ort verstehen zu lernen.
Meine Töchter waren auch beide über die Schule ein paar Tage in Krakau um Auschwitz und Birkenau zu besichtigen. Sie erzählten von den vielen anderen Reisegruppen dort und auch von israelischen Jugendgruppen. Diese Jugendlichen hängten sich die weiß-blaue israelische Flagge um und sangen israelische Hymnen an besonders geschichtsträchtigen Stätten. So wird es auch im Buch geschrieben. Bei den ersten Gruppen, die unser Tourguide begleitete, hatte er auch den Eindruck in den Besuchern etwas bewirken zu können. Ihnen die Gräuel des Krieges näher bringen zu können, so dass auch die jüngeren Generationen davon wissen und dieses nie mehr geschehen könnte.
Doch stell dir vor, die erzählst die immer gleichen Geschichten von neuem. Führt das nicht zu einer Abstumpfung des Guides?
Auschwitz als Touristen-Attraktion?
Wenn wir von KZs reden, fällt sofort der Name Auschwitz. Obwohl das eigentliche Vernichtungslager das benachbarte Birkenau war. Und es gibt noch so viele andere Arbeits- und Vernichtungslager. Doch Auschwitz ist das Haupt-Label. Das Wort Label benutzt auch der Autor. Die Besuchergruppen wollen die wichtigsten Orte abhaken. Von einer Rentnergruppe wird erzählt, die nach kurzer Zeit wieder zurück in den Bus und ins Hotel wollte, nicht, weil sie zu ergriffen waren, sondern weil das alles zu beschwerlich war, obwohl alle einen sehr rüstigen Eindruck machten.
Das jüdische Viertel in Krakau hat sich auch ganz auf die KZ-Touristen aus der ganzen Welt eingestellt. Es gibt Klezmer-Musik, Shops mit jüdischen Devotionalien und ähnliches. Auch das nervt den Guide zunehmend. Und auch davon erzählten mir meine Kinder. Es war auch auf dem Programm direkt mit drauf. Ich fand das damals super, um auch direkt einen Einblick in das damalige jüdische kulturelle Leben zu erhalten, aber so wie es hier beschrieben ist, ist vor allem eines: eine Möglichkeit Geld zu verdienen. Irgendwie auch klar, aber Geldmacherei im Zusammenhang mit KZs erscheint doch sehr anrüchig. Aber auch unser Guide verdient ja sein Geld damit. Er nimmt sich eine kleine Wohnung in Polen und fliegt nur noch selten zurück nach Israel, zu seiner Frau und seinem kleinen Sohn.
Familiäre Probleme
Für seine kleine Familie fehlt immer Geld und Zeit. Auch gibt es zunehmend Probleme im Kindergarten. Sein Sohn Ido wird im Kindergarten gemobbt, geschubst, geschlagen. Ido soll sich wehren! Doch der Kleine ist total passiv, traurig und ein perfektes Opfer. So wie die Gefangenen, die im KZ brav in die Gaskammern gegangen sind. Ja ich weiß, das ist kein Vergleich auf einer Ebene, aber während der Lektüre des Buches, wird dieser Vergleich meiner Ansicht nach angestellt. Juden, Israelis sollen keine Opfer mehr sein!
Israelis und ihre Umwelt
Einzelne Jugendliche flüstern bei der Besichtigung der Gaskammern:
Araber, so müsste man es mit den Arabern machen.
Ist das nicht erschreckend? Auschwitz wirkt bei manchen nicht als Abschreckung, sondern als Vorbild!
Irritierend fand ich auch, dass „die Deutschen“ bei den Israelis ganz gut angesehen sind: ordentlich, pünktlich, effektiv, stolz, schön. Also genau die Eigenschaften, mit denen man im dritten Reich geworben hat. Aber die Polen, die gelten als böse. In Polen standen die größten Vernichtungslager. Die Jugendlichen empfanden die Polen als die Mörder, nicht die strahlend schönen Deutschen in ihren gutsitzenden Uniformen, die sie auf den Fotos nahezu bewunderten. Mir ist auch hier erst aufgegangen, dass ja nahezu jeder junge Israeli in der Armee gedient hat. So haben fast alle eine militaristische Vergangenheit.
Selektion
Immer wieder wird auf den Moment eingegangen, in dem direkt am Eingang zum KZ selektiert wird. Die einen kamen ins Arbeitslager, die anderen direkt in die Gaskammer.
Mütter versuchten ihre Kinder zu beruhigen, Familien wurden getrennt, Säuglinge direkt am Bahnhof erschlagen. Trotzdem gab es kaum Eskalationen. Im Buch wird die Frage von Besuchern gestellt: Warum gab es keine Gegenwehr? Haben sie es nicht anders verdient?
Diese Aschkenasen, hörte ich mehrmals, diese Erzlinken haben es nicht hingekriegt, ihre Frauen und Kinder zu schützen, haben mit den Mördern kooperiert, sind keine echten Männer, können nicht zurückschlagen, sind ängstlich, weichlich, machen den Arabern Zugeständnisse.
Der Guide verzweifelt an solchen Aussagen. Zu Beginn seiner Tätigkeit in Polen ist er noch abgeklärt, beschränkt sich auf die Fakten, doch nach einigen Jahren nimmt ihn alles immer mehr mit, er wird immer emotionaler. An manchen Tagen ist er von der Vergangenheit so ergriffen, dass er kaum ein Wort sagen kann. Er fühlt mit den Millionen, die diese Wege in den Tod gegangen sind.
Spiel mit der Realität
Der Guide kann ene weitere weitere Expertentätigkeit ergattern: er wird Berater bei einem Computerspiel. Erst war es dazu gedacht Schülern auch direkt in der Schule das Leben in einem KZ näher zu bringen. Doch nach und nach wurde ihm klar, dass es nur ein anderes Spielszenario ist. So wie „Gladiatoren in Rom“ oder „Kreuzritter im Krieg“. Er kann viele Details dazu beitragen. Es bleibt immer eine Mischung von Faszination und Abscheu, wenn von diesem Spiel die Rede ist. Der Guide wurde auch aufgefordert es zu testen. Dabei konnte er in verschiedenen Rollen schlüpfen.
Ich brach Goldfüllungen aus dem Mund einer Leiche und steckte sie in einen Kasten, wurde dann ein Deutscher und schlug einen Juden mit der Lederpeitsche, war ein Kapo und verteilte Supp aus einem Kessel. Ich konnte mich nicht davon losreißen – so gelungen und schrecklich war das Spiel, das sie produziert hatten.
Monster
Das Monster in diesem Buch ist nicht (wie ich erwartete) das
dritte Reich. Sondern die Erinnerung daran.
So gibt es eine Stelle, an der ein Überlebender seine Geschichte erzählt, doch
irgendwann nicht weiterreden kann
…er hatte dem Monster Erinnerung sein Opfer dargebracht und fertig
Seinem kleinen Sohn erzählt der Guide als Erklärung was er beruflich macht und bedient sich dabei auch dem Bild des Monsters:
„Es gab einmal ein Monster, das Menschen getötet hat“, antwortete ich. „Und du bekämpfst es?“, fragte Ido begeistert. „Es ist schon tot“, versuchte ich ihm zu erklären, „es ist ein Monster der Erinnerung.“
Und so kämpft der Mann mit diesem Monster, der Erinnerung, die nicht seine ist, aber eine kollektive Erinnerung sein sollte. Jeder, der sie zu schänden droht wird zu seinem Feind, also auch zu einer Art Monster.
Fazit
Monster von Yyishai Sarid ist ein Buch, das mich sehr aufgewühlt hat. Es gab mir neue Informationen zum Holocaust, vor allem zur Sicht des heutigen Israels darauf. Eine klare Leseempfehlung für alle, die sich mit der Vergangenheit und dem heutigen Umgang damit auseinandersetzen möchten. Ich werde noch lange daran zu knabbern haben.
Weitere Bücher zu den Themen
Holocaust, Israel, Judentum
John Boyne: Der Junge auf dem Berg
Robert Scheer: Pici
Takis Würger: Stella
Armando Lucas Correa: Das Erbe der Rosenthals
Chris Kraus: Sommerfrauen, Winterfrauen
Dagmar Fohl: Alma
Diane Ackerman: Die Frau des Zoodirektors
Arno Geiger: Unter der Drachenwand
Robert Seethaler: Der Trafikant
Deborah Feldman: Unorthodox
Luca Crippa: Wilhelm Brasse Der Fotograf von Auschwitz
Sarit Yishai-Levi: Die Schönheitskönigin von Jerusalem
Amos Oz: Geschichten aus Tel Ilan
Dorit Rabinyan: Wir sehen uns am Meer
Fotos
Die Fotos hat meine Tochter letztes Jahr bei ihrem Besuch in Birkenau und Auschwitz gemacht.
Liebe Silvia,
danke für die Rezension. Hört sich sehr interessant an, kommt auf alle Fälle auf meine Liste.
Liebe Grüsse
Isabel
Hallo Isabel,
Ein außergewöhnliches Buch, dass interessante Perspektiven aufzeigt.
Ich freue mich, wenn es viele Leser findet.
Alles Gute
Silvia
Ein sehr interessanter Buchtipp!
Hallo Mona,
Das ist sicher ein Buch, dass ich im Lesekreis vorschlagen werde.
Das muss ich einfach mit anderen diskutieren!
Alles Gute
Silvia
Ja ein grossartiges Buch und sehr geeignet zur Besprechung in einem Lesekreis.es ist immer wieder aktuell
Hallo Carola,
ja, diesen Roman hätte ich wirklich gerne mit anderen diskutiert.
Ein Buch, dass mir immer noch im Kopf herumschwirrt.
Viele Grüße
Silvia